Archiv des Kölner Architekturmagazins. 2000 - 2021.

Architektur ist unsichtbar

Ein Vortrag von Prof. Dipl.-Ing. Gunter Henn am 08.09.09 bildete den Auftakt zu einer Veranstaltungsreihe von BOS und Steelcase.

Die meisten so genannten Impulsvorträge lösen ja im Zuhörer vor allem den Impuls aus, sich schon mal an die Erfrischungstheke zu flüchten. Ganz anders an diesem sehr warmen Abend im Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung: es gab einen lohnenden Anlass, das Gehirn aus der Sommerpause zu holen. Und genau darum ging es: um das Gehirn, um Wissensgenerierung und um Räume, die diesen Prozess unterstützen – um eine Architektur des Wissens. „Architektur ist unsichtbar, aber denkbar.“ So lautet die Eingangsthese von Gunter Henn, Leiter des Lehrstuhls für Industriebau und des Center für Wissensarchitektur an der TU Dresden.

Gebäude sind sichtbar, nicht aber die in ihnen enthaltenen Räume oder die Verbindungen unter ihnen, eben die Architekturen. Das Gehirn als Struktur für Denk- und Wissensproduktion stellt eine Architektur dar, die sich zur Nachahmung empfiehlt. Erkenntnisgewinn findet nicht im einzelnen Neuron statt, sondern im neuronalen Netz, in dem durch Verbindungen auf chemischem und elektrischem Weg Information zwischen den Neuronen ausgetauscht werden. Dieses Netz bildet die Informationsarchitektur des Gehirns. Die Gebäude-Architektur ist die Organisation künstlicher Intelligenzprozesse.

Forschungs- und Innovationszentrum der BMW Group in München

Der klassische Büroflur, von Henn bezeichnet als „Mittelflur mit Einzelhaft“, steht für Arbeit als Addition von Teilarbeiten – eine z. B. für das heutige „simultaneous engineering“, bei dem Produktentwicklung und Produktionsmittelplanung parallel laufen, völlig untaugliche Methode. Die Herstellungsprozesse sind innovativ – aber wie funktioniert die Kommunikation und wie sieht das passende Gebäude dazu aus? Jeder redet mit jedem, das geht bei der Größe der Teams nicht mehr. Eine übergeordnete Mega-Intelligenz ist nicht gewünscht und nicht vorhanden. Die Herausforderung für die neue Architektur bei BMW besteht darin, dass bei mehreren Hundert Mitarbeitern zur richtigen Zeit die richtigen Leute miteinander reden sollen. Als Haus im Haus steht das Studio-Werkstattgebäude mit realen Modellen zu den einzelnen Projektständen auf den Gebäudeebenen – eine Art von Rapid-Prototypingverfahren. An diesen Modellen treffen sich Mitarbeiter unterschiedlicher Teams, so dass Wissen schneller externalisiert und auch Ferndistanzen zu einem anderen Team überwunden werden können.

Gläserne Manufaktur für Volkswagen in Dresden

Hier werden Oberklassenlimousinen in Handarbeit montiert. Der Ort der Automobilproduktion ist aber gleichzeitig auch Besucherzentrum und Marketingmaßnahme. Der Kunde wollte weg vom reinen Behauptungsmarketing, hin zu einer Art Echtzeit-Marketing. Die Erlebniswelt der Automarke sollte mit der des Kunden synchronisiert werden. In der Gläsernen Manufaktur kann der Herstellungsprozess beobachtet werden, und es gibt Veranstaltungen rund um das Auto. Und man hat sich in Dresden für eine Anlieferung des Materialbedarfs mit der Straßenbahn entschieden. Denn nicht nur die Verbindungen innerhalb der Gebäude machen die Architektur aus, sondern auch die mit ihrer Umgebung.

Ira Scheibe

‚Architektur ist unsichtbar, aber denkbar‘, so die Eingangsthese von Gunter Henn

Schnitt des BMW Forschungszentrums im München

Abb. Henn Architekten

Nach dem Vorbild neuronaler Netze entstehen neue Architekturen der Wissensgenerierung. Zentrale Modellplattformen als Haus im Haus stellen zusätzliche Möglichkeitsräume für die Mitarbeiterkommunikation her.

Abb. Henn Architekten

Wir sehen hier nur das Gebäude, also die Modellbühne mit den umliegenden Büros. Die Architektur ist die Möglichkeit zur Echtzeit-Kommunikation unter Hunderten von Mitarbeitern, und die ist unsichtbar.

Foto: H. G. Esch