Archiv des Kölner Architekturmagazins. 2000 - 2021.

Mittelmeeridylle im Umbruch

Nach Valencia – nicht nur der Orangen wegen!

Naja, es fällt nicht ganz in die Rubrik „Heimaturlaub“. Und normalerweise schreiben wir auch keine Reiseberichte. Aber unsere Autorin Ira Scheibe war in Valencia, bei den Kollegen von Guiding Architects, und leuchtet noch immer wie eine Orange, wenn davon die Rede ist. Also darf sie Ihnen verraten, weshalb Sie unbedingt dorthin müssen.

 

Erstens, weil ALLE nach Barcelona fahren und es ergo sehr VOLL ist. Und zweitens, weil Valencia, die drittgrößte Stadt Spaniens nach Madrid und Barcelona, alles hat, was es braucht und noch viel mehr: Futuristische Megaprojekte, eine gut sortierte Altstadt, heroische Häuserkämpfe und erschütternde Brachlandschaften. Außerdem jede Menge Sonne, Sand und Paella. Und viel weniger Zulauf. Das wird bestimmt nicht so bleiben.

Unser Partner im Netzwerk Guiding Architects in Valencia ist Boris Strzelczyk, Architekt und in einer deutschen Familie in Valencia aufgewachsen. Heute ist er mit dem Architekturgeschehen seiner Heimatstadt fest verwurzelt ist. Für die Stadttour empfiehlt er das Fahrrad, also los geht’s.

Fluss wird Park

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Prima Platz für eine Stadtautobahn, aber dann doch lieber Park: das Flussbett des Turia mit Santiago Calatravas Alamenda Brücke, auch unter dem Namen „La Peineta“ (der Steckkamm) bekannt, 1991-95; Foto: GA Valencia

 

Nehmen wir an, Sie wachen eines Morgens auf und die gesamte Kölner Ringstrasse ist komplett autofrei, ein einziger durchgehender Park mit Wasserbecken, Fußballfeldern und Radwegen. In Valencia wurden solche Träume wahr. Der Fluss Turia hatte Valencia immer wieder unter Hochwasser gesetzt, und Ende der 50er Jahren entstand der Plan Sur, der „Plan Süden“: Man lenkte ihn in einem neuen Bett um die Stadt herum. Teil des Plan Sur war auch die Verlegung der Stadtautobahn in die Trasse des ehemaligen Flussbettes. Aber zunächst war kein Geld da, dann starb Franco, und dann kam alles ganz anders. Nicht Autos brausen heute durch das Flussbett, sondern Jogger und Radfahrer. Im Jahr 1981 beauftragte die Stadt Ricardo Bofill, eine Parkanlage auf den rund 100 Hektar des fast sieben Kilometer langen Bettes zu entwerfen. Die Umbauten fanden im Wesentlichen in den 1990er Jahren statt.

Staunendes Entsetzen

Es war die Zeit des Ungestüms. EU Gelder flossen ins Land, die junge Demokratie feierte sich mit der Expo in Sevilla, der Olympiade in Barcelona – und auch Valencia wollte es krachen lassen, aber so richtig. Und es ist ihnen gelungen, vor allem die Fans architektonischer Extremerfahrungen werden es lieben: Eben ist man noch ganz beschaulich in Spaniens Goldenem Jahrhundert unterwegs und bewundert die alten Steinbrücken, und schon landet man im Filmset: Hollywood inszeniert ferne Galaxien, Budget spielt keine Rolle.

 

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Wo man hinschaut: Calatrava! Kino (rechts) und Wissenschaftsmuseum im Turia Flussbett; Foto: GA Valencia

 

Ach nein, falsch: Es ist Santiago Calatravas Stadt der Künste und der Wissenschaften, errichtet zwischen 1991 und 2009 als Vorzeigeprojekt für seine Heimatstadt Valencia. Und das Budget ist schon lange aus dem Ruder, die Folgekosten unabsehbar. Es blendet unheimlich, gleißend weiße Raumschiffe erheben sich inmitten von funkelnden Wasserflächen, zu viele Hundertausende Lux für die überforderten Augen. Es sieht zwar wie Kulisse aus, ist aber alles echt, wenn auch nicht durchgehend funktionstüchtig. Und es ist ein hochfrequentierter Ort, vor allem von Produzenten von Selfie-Videos.

 

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Immer noch Calatrava: Rechts im Bild die „Àgora“, eine Veranstaltungshalle, die statt 45 Mio Euro das Doppelte gekostet hat, fertig ist sie aber immer noch nicht – hierzu bräuchte man noch mal mindestens 10 Mio Euro. Foto: GA Valencia

 

Richtung Meer

Bis jetzt haben wir: ein lohnendes Reiseziel. Aber jetzt wird es wild. Wir fahren Richtung Meer. Der Weg führt über eine Rampe mitten hinein in die geplatzte Immobilienblase. Hier standen einst die Lagerhallen für den Hafen und sogar ein ganzes Dorf, aber jetzt ist hier vor allem viel Platz.

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So ein grüner Kunstrasen macht doch etwas her. Die Straßenbahnschienen sind unbenutzt, denn die Neubaugebiete im ehemaligen Industriehafen wurden größtenteils erst gar nicht gebaut. Foto: GA Valencia

 

Wir kommen nach Natzaret. Die bunten Häuser in der ersten Reihe am Meer schauen auf verheißungsvolle Palmen, sogar der alte Strandkiosk Benimar ist noch da, aber kein Strand mehr. Er musste dem Industriehafen weichen, aber auch den gibt es nicht mehr. Jetzt ist hier Endstation, nicht nur für die Tram. No go area, nennt man sowas im Angelsächsischen. Schlagzeilen machte das Viertel jüngst mit einem Pferd: Es gab einen Streit zwischen zwei Zigeunerfamilien, beide im Wettgeschäft unterwegs. Da holten sie ein Rassepferd aus dem Stall der einen Familie und ließen es verhungern – aus Rache. Sitten wie bei Garcia Lorca.

 

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Calatravas Stadt der Künste von den Poblats Marítims aus gesehen, den ‚Küstendörfern‘, die heute Stadtteile von Valencia sind. Foto: GA Valencia

 

Wir radeln weiter vorbei an der Formel 1 Strecke und dem neuen Yachthafen, auch hier ein städtebauliches Purgatorium, wo nichts mehr ist, was es einst war, aber wo auch noch nicht klar ist, was einst werden wird. In einer alten, offenen Lagerhalle haben sich Skater einen Parcours eingerichtet, nebenan wird gerade Renzo Pianos Gebäude für den America’s Cup abgerissen.

Poblats Marítims

Für Cabanyal, eines der ehemaligen Küstendörfer, die mittlerweile in das Stadtgebiet eingegliedert sind, war lange Zeit sehr wohl klar, was werden würde: Der Abriss drohte. Die Altstadt von Valencia liegt circa 4 km flussaufwärts, und die von hier aus Richtung Meer führende Prachtallee durch die neueren Stadtviertel reicht nicht bis an den Strand, denn hier stehen die alten Fischerhäuser im Weg.

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Die erste Reihe am Strand in Cabanyal; Foto: GA Valencia

 

Und es ist ein wirklich toller Strand! Cabanyal ist ein Viertel armer Leute, die Häuser sind meist zweigeschossig. Vom Bürgersteig aus macht man nur einen halben Schritt und steht mitten in der Wohnküche. Die Küchenstühle stehen auf der Straße, zwei Kinder duschen sich mit einem Wasserschlauch. Ein Armeleuteviertel – aber mit Strandlage! Es ist klar, da entstehen Begehrlichkeiten.

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Zur besseren Durchlüftung ist das Viertel rasterförmig angelegt. Foto: Milena Villalba

 

Ende der 1990er Jahre beschloss die Volkspartei einen „Reformplan“, der den Abriss von fast einem Drittel des Viertels vorsah, um den Boulevard bis an den Strand verlängern zu können. Doch die Bewohner wehrten sich und wehrten sich und wehrten sich, über 15 Jahre lang. Die Stadt kaufte Häuser auf, ließ sie abreißen, auf den leeren Grundstücken stapelte sich der Müll. Das Viertel kam immer mehr herunter.

 

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Mit bescheidenen Materialien, mit Stuck und Kacheln, imitierten die Fischer den Modernismus der reichen Bürgerhäuser Valencias. Foto: Mavi Corell

 

Nachdem die Zentralregierung in Madrid eingegriffen und einen Baustopp über das Viertel verhängt hatte, genehmigte die Stadt auch keine Sanierungen mehr. In einem neuen Bericht werden 740 von insgesamt 3.530 Parzellenbebauungen als Ruinen klassifiziert. Doch nun scheint sich das Blatt zu wenden: Die neu gewählte Linksregierung in Valencia hat den „Reformplan“ der Vorgänger auf Eis gelegt, die ersten Investoren trauen sich nach Cabanyal.

Und so kann man sich am Abend ganz optimistisch fühlen bei einem samtigen Rotwein in der Casa Montaña und einem Schinken, bei dem man seinen Begriff vom Schinken ganz neu definiert. Und dann, erzählt uns Boris, haben wir das Sumpfgebiet Albufera – Heimat der Paella – noch nicht gesehen und die mittelalterliche Seidenbörse, die schönste Markthalle Spaniens und noch dreißig Dinge mehr, an die ich mich nicht genau erinnere, weil es noch ein paar „vorletzte“ Gläser gab. Egal, wir kommen wieder, und dann fahren wir nach Benidorm!

 

Ira Scheibe