Archiv des Kölner Architekturmagazins. 2000 - 2021.

Stadt als Erzählung als Landschaft

Interview: Architektur Ein Gespräch mit Boris Sieverts

Seit 1997 macht Boris Sieverts Städtereisen der anderen Art: die Touren führen weg von den Schauseiten der Orte, aber das allein ist es nicht. Wenn alles gut geht, gewinnen seine Gäste einen neuen Blick auf die Umgebung. Das sagt sich so leicht, aber wie gelangt man von der bloßen Behauptung zur Verwirklichung? Indem man sich kindlich der Landschaft und der eigenen Sinneswahrnehmungen anvertraut, sie ernstnimmt, und auf dieser minutiös vorbereiteten Reise kundig geführt wird: von einem Reiseführer, der das Sehen wandelt. Künstler möchte er sich nicht nennen.

Boris Sieverts, als ich bei einer Ihrer Touren mitging, kam es mir vor wie eine Psychoanalyse der Stadt. Ist das so?

Boris Sieverts: Mit dem, was ich mache, bin ich sicherlich auf der Suche nach Entstehungsvorgängen, nach einem unbewußten ästhetischen Programm.

Erstellen sie einen Befund?

Boris Sieverts: Wenn ich das könnte, wäre ich ’durch’ mit diesem Ort. Für mich funktioniert ein Ort so lange, wie der Bewusstwerdungsprozess, den ich mit ihm habe, noch abläuft. Das sind für mich die ästhetisch nachhaltigen Orte. Sie können bruchstückhaft und unvollkommen sein wie eine Stadt oder monumental, erhaben und perfekt, wie das Meer oder manche Kathedralen. Auch für ein grundsätzlich bruchstückhaftes Gebilde wie eine Stadt gilt dabei: Ich muss auch Phasen haben, in denen ich etwas Heiles durchquere, damit ich die Brüche noch erlebe, sonst hätte ich ja nur noch Rauschen. Wobei heile und erhaben natürlich nicht dasselbe sind.

47392autostart=TRUE] Suche und Befund

Wo gibt es denn besonders viel Rauschen?

Boris Sieverts: Zum Beispiel im Ruhrgebiet, je nachdem, auf welche Art und Weise ich mich dort bewege: Wenn ich mit Navi von Dortmund nach Duisburg fahre und die Autobahn ausschließe, komme ich nur durch diese verstädterten Landstraßen mit Spielotheken, Pizzalieferanten und Sparkassen, in denen die Straßenbahnen von einem Ortsteil zum anderen fahren: Die empfinde ich dann nur als diffus und langweilig, weil sie aus ganz vielen kleinen und kleinsten Brüchen und Unvollkommenheiten bestehen, für deren Wahrnehmung das Auto außerdem auch noch viel zu schnell ist. Ich kann mich natürlich auch ganz anders durch das Ruhrgebiet bewegen, zu Fuß und mit dem Rad und häufig querfeldein: Dann ist es total spannend. Auch manche extrem durchgestalteten Orte sind langweilig, z.B Versailles oder die meisten Flughäfen. Sie fordern mich weder heraus, noch sind sie transzendent. Das Ergebnis ist dann ebenfalls ein Zustand von Anästhesie.

Betäubung könnte ja helfen, der Trostlosigkeit von Orten zu entgehen.

Boris Sieverts: Trostlosigkeit von Orten ist nur ein anderes Wort für ihre die Wahrnehmung betäubende Wirkung. Umgebungen, die nicht klassisch schön sind, können dennoch sehr erzählerisch sein. Trostlosigkeit ist etwas ganz anderes: Wenn ich in einer Umgebung bin, die nicht zu mir spricht, führt das zu Vereinsamung. Wenn ich im Dialog bin mit den Dingen, die mich umgeben, dann fühle ich mich nicht einsam, auch wenn ich alleine unterwegs bin. Als Naturerfahrung ist das allgemein bekannt. Man kann das aber auch auf die Stadt übertragen. Ob der Dialog von der Umgebung ausgeht oder von mir, ist natürlich auch ein wenig wie die Geschichte von Henne und Ei: Ob die Sachen mir nichts sagen oder ich nicht zuhöre.

47393autostart=TRUE]Vereinsamung und Dialog

Offenbar haben Sie Hören und Sehen besonders geschult. Wie war der Weg dorthin?

Boris Sieverts: Ich bin die letzten Schuljahre in Deutz zur Schule gegangen und habe in Humboldt-Gremberg gewohnt, gerade noch innerhalb der „kompakten“ Stadt, aber an der Grenze zum zerfransten Stadtrand, dort waren die Orte, die mich berührten. Später im Kunststudium war es wichtig, solchen Orten als Setzungen wieder zu begegnen, etwa in den frühen Stadtlandschaftsfotografien von Andreas Gursky und Thomas Ruff. Nach dem Studium habe ich eine zeitlang als Schäfer in einer halbwegs urbanisierten Gegend gearbeitet. Als Schäfer ist man immer auf die Lücke zwischen den Häusern konzentriert. Das ist sozusagen eine Umkehrung des Blicks auf die „Objekte“ der Stadt. Auch die Setzung von Mitte und Rand verschiebt sich dabei völlig. Meine Arbeitsweise, mich stets vom Rand zu nähern, stammt bestimmt zu einem Gutteil aus dieser Erfahrung, die ich sehr bereichernd fand. An den Rändern und Rückseiten kriegt man die Geschichten nämlich unmittelbarer erzählt als an den zur Anschauung gedachten Seiten.

Welche Technik haben Sie, um die Landschaft neu und andersartig zu erfassen?

Boris Sieverts: Ich führe meine Gäste so, dass sie die Orientierung verlieren und sie dadurch den Umgebungen stärker ausgesetzt sind, weil sie die Orte nicht mehr in ihr gewohntes Koordinatensystem einordnen können. Sie müssen auch mal etwas wagen und eigene Grenzen überwinden, die sie – nicht gründlich geführt – unangetastet ließen. Sie müssen mir vertrauen. Ich möchte, dass die Leute eine echte Reise erleben. Dazu gehört auch, dass die durchquerte Gegend für die Dauer dieser Reise zur Lebenswirklichkeit der Teilnehmer wird. Und zu einem Stück – vorübergehender – Heimat. Ich weise der Gegend einen Text zu, der bislang ungeschrieben ist, der aber in ihren geografischen, sozialen und historischen Zusammenhängen angelegt ist. Dadurch verwandelt sich die bloße Gegend in eine Landschaft. Ich vertraue dieser Landschaft so ganz, dass es gelingt, dieses Versprechen Realität werden zu lassen.

47394autostart=TRUE]Koordinatensystem und Heimat

Mit welchen Instrumenten?

Boris Sieverts: Die Orte leben davon, WIE sie auftauchen. Das hängt davon ab, mit welcher Blickrichtung man sie betritt und was man in den Stunden zuvor bereits alles durchquert hat. An ihren Rändern bewahren die Städte oft ein Versprechen, das nicht davon lebt, daß es gehalten wird. Es funktioniert eher wie das Wachhalten einer Erinnerung durch die Anwesenheit eines Projektionsraums. Brachen z.B. sind solche Projektionsräume. Sie brauchen eine gewisse Weite, um Wirkung zu entfalten. Diese Weite muß aber keine tatsächliche, große Ausdehnung bedeuten. Entscheidend ist ihr unvorhersehbarer Bewuchs und dass ich die Tiefe des Raumes nicht von vornherein ausloten kann. Mit unübersichtlichen Vegetationsstrukturen, überraschenden Zugängen und Flächenzuschnitten, die von den Grundstücken der umgebenden „Normalstadt“ abweichen, können sie auch kleinen Freiflächen und sogar Bauwerken eine landschaftliche Dimension abgewinnen, weil sie dann wie Zugänge in eine andere Welt wirken. Alte Gleisanlagen, auf denen Birkenwälder wachsen, sind ein Paradebeispiel für diese Dynamik.

… Dann ist der Zeitpunkt zu dem wir an einen Ort gelangen, wichtig. Ich baue Touren um, wenn ich das Gefühl habe, dass nicht der richtige Zeitpunkt getroffen wird. Viele Orte in Köln, an denen ich mich abarbeite, haben eine große Amplitude zwischen Zauber und Trostlosigkeit, je nach dem Zeitpunkt, an dem man sie aufsucht.

… Und der Sound: Seit 13, 14 Jahren mache ich Stadtführungen, und jedes Jahr messe ich dem soundscape 5% mehr Bedeutung zu. Momentan denke ich, dass der Sound die Hälfte davon ausmacht, wie ich einen Ort erlebe.

… Neben der Choreografie des Weges habe ich auch noch die Möglichkeit, Orte durch kleine Eingriffe zu verwandeln: Wenn ich eine lange Tafel für das Picknick auf dem Asphaltrund eines Wendehammers aufbaue, kommt der als Bodenskulptur ganz gut zur Geltung.

Dem Entfremdungs- oder Überraschungselement begegnet man ja auch beim Guerilla Gardening, gibt es da eine Verwandtschaft im Geiste?

Boris Sieverts: Die gibt es wohl insofern, als uns die Praxis einer freundlichen Subversion des Stadtraums verbindet. Ich finde aber, daß der Garten als Instrument der Stadtgestaltung ziemlich überstrapaziert wird. Ich sehe meine Umgebung lieber als Landschaft. In Kalk z.B. gab es nach dem Abbruch der chemischen Fabrik und dem Austausch des belasteten Bodens eine riesige Sandwüste. Die war ganz großes Kino, auch noch, als das Einkaufszentrum an ihrem Rand längst fertig war. Mir fehlte da gar nichts. Der Park, der an dieser Stelle jetzt angelegt ist, ist dagegen echt öde. Ein Garten ist zwar kein Park, aber in der Unterscheidung zur Landschaft setze ich das jetzt einfach mal gleich: Wer einen Garten braucht, vertraut der Landschaft nicht.

Mit Boris Sieverts sprach Ira Scheibe

Klicken und Hören

* Damit Sie die Antworten nicht nur lesen sondern auch hören können, haben wir einige Aussagen als O-Ton für Sie aufgezeichnet. Klicken Sie jeweils auf um die Aufnahme abzuspielen.

 

Boris Sieverts führt seit 1997 das ‚Büro für Städtereisen‘

Foto: Privat