Archiv des Kölner Architekturmagazins. 2000 - 2021.

Im Kramladen der Möglichkeiten

Die Designschau ‚Entry 2006‘ in der Kohlewäsche der Zeche Zollverein gerät zu einem Sammelsurium der unbegrenzten Möglichkeiten.

Einst war es der wirtschaftliche Aufschwung, der dem Standort Zollverein zu Ruhm verhalf. Als eine der produktivsten Wirtschaftszentren des Ruhrgebiets ging die Zeche in die Geschichte ein. Heute sind es die beeindruckenden Reste des Industriezeitalters, die sich hier mit den Innovationen von heute verbinden. So wirkt es nur konsequent, mit „Entry 2006“ in der alten Zeche neue Ideen aus Architektur und Design zu präsentieren. Doch die Ausstellung um die Wohnwelt der Zukunft gerät zu einem Sammelsurium der unbegrenzten Möglichkeiten.

58 Meter bis zur Wohnwelt der Zukunft

Der Aufstieg in die Kohlewäsche ist geradezu erhebend: 58 Meter lang ist die Rolltreppe, die den Besucher emporträgt in das einstige Zentrum der Arbeit, in dem das Naturprodukt bis 1986 ans Tageslicht befördert und sortiert wurde. 1932 bauten Fritz Schupp und Martin Kremmer ein einzigartiges Ensemble im Stil der Neuen Sachlichkeit, das die Unesco 2001 mit einem Eintrag in die Liste der Weltkulturerbe adelte. Knallorange und mit einem Plexiglasdach versehen lehnt sich heute die Treppe im Retro-Look wie ein rüsselartiges Gebilde an den Bauklassiker, so, als wolle sie nur für kurze Zeit dort verweilen. Doch weder die Ausstellungsmacher noch die Architekten Rem Koolhaas (Rotterdam) und Heinrich Böll (Essen), die die Kohlewäsche zum Schauraum umbauten, haben in kurzzeitigen Dimensionen gedacht.

Eine Vielzahl von Themen

Kuratiert wurde „Entry 2006“ von einem Konvulut an Ausstellungsmachern, darunter Werner Lippert, Peter Wippermann oder Francesca Ferguson. Einige Teile sind aber auch Gemeinschaftsprodukte wie der Bereich „Open House“, der vom Vitra Design Museum und dem Art Center College Pasadena betreut wurde. Während die Rolltreppe die Besucher in den Eingangsbereich mit Café und Buchladen führt, geht es über das Treppenhaus weiter in die Ebenen 24, 17, 12, 6, deren Zahlen die Höhe der Meter über dem Erdboden anzeigen. Im nördlichen Kohlesilo hat Koolhass einen orangerot lackierten Treppentrakt eingerichtet, dessen Geländer sich leuchtend gegen die mächtigen Wände absetzen – Lichtinstallationen mit pulsierenden Zellen machen aus ihnen eine wabernde Masse, die auf ein zentrales Thema der Ausstellung verweisen: Die Verbindung von Gentechnik, Natur und Design.

Ist „B.A.N.G.“ die Zukunft des Designs?

Die Welt verändert sich im Kleinen – so jedenfalls sieht es der amerikanische Künstler George Gessert, der sich mit traditionellen Zucht- und Ausleseverfahren beschäftigt und eine Reihe von Pflanzen in schlichten Terrakottatöpfen zeigt: Der Besucher wird aufgefordert, die Buntnesseln auszusortieren, deren Farbe ihm nicht gefällt. Fängt Design also bereits bei der Züchtung bestimmter Pflanzen an? Und wo überhaupt verläuft die Grenze zwischen dem klassischen Design des 20. Jahrhunderts und der Zukunft der Bits, Atome, Neuro- und Gentechnik, kurzum des „B.A.N.G“-Designs?

Maschinen, die zu Menschen werden

In der Abteilung „Robotic Living“ auf Ebene 12 werden Maschinen gezeigt, die Menschen erstaunlich ähnlich sind. So sind Videos von „Humanoid Q2“ zu sehen, einem japanischen Roboter im Kostüm einer asiatischen Frau, die auf Kommando Auskünfte geben kann – natürlich nur, wenn sie vorher entsprechend programmiert wurde. Was der menschliche Roboter mit den Zukunftsvisionen des Wohnens zu tun hat? Der Besucher kann es nur erahnen: Künstliche Intelligenz soll Einzug in unseren Alltag nehmen und unser Vertrauen gewinnen. So steht das „Jellyfish House“ von Isamoto Scott in der Abteilung „Open House“ für eine Gebäudehülle, die als Wasserspeicher und -filter, Heiz- bzw. Kühlkörper dient. Kurzum: Das Modell eines Hauses, das für seine Bewohner mitdenkt.

Organische Wohngemeinschaften

„Open House“ zeigt auch Wohnformen, die eine gesellschaftliche Umstrukturierung voraussetzen. So stellt das koreanische Architekturbüro „Mass Studies“ dass Modell einer organisch gewachsenen überdimensionalen Wohngemeinschaft aus, in der die Menschen der Zukunft ihre Individualität wahren und zugleich offen werden für neue, gemeinschaftliche Wohnräume. Die Architekten aus Asien wünschen sich eine Kommune – doch unkommentiert steht das Modell des neuen Wohnzeitalters gleich neben dem „Ufo Haus“ von Matti Suuronen aus dem Jahr 1968 – was haben solch alte und neue Ideen miteinander zu tun? Immer wieder misslingt es den Ausstellungsmachern, aufgeworfene Fragen zu beantworten. Das führt dazu, dass „Entry 2006“ kühl wirkt, unnahbar – was kann es Schlimmeres geben, als Besucher in erster Linie zu verunsichern, als zu bereichern?

Eine zweite Haut für neues Design

Die Abteilung „Second Skin“ widmet sich neuen Materialien auf den Gebieten Möbel, Mode, Architektur, Gesundheit und Medien. Taschen und Kleider, Fußbälle und Waschbecken, alles ist jetzt adaptiv und weich – doch was wird da eigentlich zusammengetragen? „Haut“ beziehungsweise synthetisch erzeugte Ersatzstoffe werden hier als nachwachsende Rohstoffe gezeigt, als neue Oberfläche für Produkte.

Neubewertete Stadtränder

„Groundswell“ präsentiert Landschaftsprojekte sowie Konzepte zur Renaturierung von Brachen und Revitalisierung städtischer Räume, während „Talking Cities” eine Neubewertung städtischer Randzonen versucht. Zu sehen sind neben Stefan Eberstadts „Rucksack House“, das sich bequem an bestehende Fassaden andocken lässt, minimalistische Wohnwelten aus den Abfallprodukten der Konsumgesellschaft: Eine Sitzgelegenheit aus einem alten Baugerüst, daneben umfunktionierte Bierkisten als Bett, Berliner Stadtansichten zum Zusammenbauen im Postkartenformat. Kurzum: Präsentiert werden 40 Positionen, die eine kleine Reise um die Welt ergeben. Mehr als Impressionen sind allerdings nicht zu sehen: Wo Erläuterungen hilfreich wären, setzen die Ausstellungsmacher nur philosophische Phrasen, Zitate von Architekten, deren Zukunftsvisionen schwer fassbar sind und daher nichtssagend verpuffen.

Viele Antworten auf nichtgestellte Fragen

„Wie werden wir morgen leben?” ist schlussendlich die zentrale Frage von „Entry 2006“. Beantwortet wird allerdings viel und damit gar nichts. Zu sehen sind Produkte, Kleider, Häuser und Design, Technologien, Materialien und Ideen, die so unverbunden nebeneinander stehen, dass sie letztendlich nur wenig Substantielles vermitteln. Ein Sammelsurium von Ideen, ein Krammarkt der Möglichkeiten – wobei manchmal nur schwer zu erkennen ist, wie neu die wirklich sind. Ein weiteres Manko ist die Nutzung der Kohlewäsche selbst. Um die alten Hallen zu Ausstellungsflächen umzufunktionieren, hatten sicherlich einige Strukturen verändert und Maschinen ausgeräumt werden müssen: So sind aus Kohletaschen Kabinette geworden und aus Trichteröffnungen Lichtquellen. Doch das, was an alten Strukturen übrig geblieben ist, bleibt gänzlich unkommentiert.

Geschichte als reine Kulisse

Die Räume – auch die nachträglich veränderten – sind großartig puristisch und zugleich gezeichnet mit der Patina vergangener Jahrzehnte. Doch versäumen es die Ausstellungsmacher, das Spannungsverhältnis zwischen alt und neu, zwischen Bauklassiker, Industriegebäude und Zukunftsvisionen für sich zu nutzen. Maschinen wie Setzbecken, Siebtrommeln, Becherwerke sind nur noch Zeugen der Vergangenheit, die als reine Kulisse dienen. Die damalige Aufgabe des Gebäudes wird nicht erläutert, schlimmer noch: Es ist ein Stück Technik- und Zeitgeschichte, das hier einem Durcheinander an Zukunftsvisionen weichen muss.

Die Ausstellung „Entry 2006“ ist auf Zeche Zollverein noch bis zum 3. Dezember zu sehen, im Anschluss wird dann das Ruhrmuseum in der Kohlewäsche ein neues Zuhause finden.

Zur Ausstellung ist die Publikation „Entry Paradise – Neue Welten des Designs” im Birkhäuser-Verlag, Basel, erschienen. Der Band kostet 29,90 Euro.

Entry 2006 im Internet

Luise Ernst

Zur Rechten des Förderturms geht es über eine Rolltreppe in die alte, neue Kohlewäsche.

Der neue Zugang in die Eingangsebene der Kohlenwäsche in 24 Metern Höhe über die größte freistehende Rolltreppe Deutschlands.

Photo Credit: ENTRY2006/Günter Lintl, 2006

Blick in die Ausstellung in der Kohlenwäsche

Photo Credit: ENTRY2006/Günter Lintl

Im nördlichen Teil des Gebäudes hat Koolhaas ein Treppenhaus eingesetzt, über das die einzelnen Ebenen zugänglich sind.

Das ‚Jellyfish House‘ von Iwamoto Scott steht Modell für Baukörper, die mitdenken.

In der „Seoul Commune 2026“ aus dem koreanischen Architekturbüro ‚Mass studies‘ werden Wohngemeinschaften zu Zukunftsmodellen.

Visual Power Architekturentwurf, New York Die 45-stöckigen Wohnrürme wurden speziell für Regionen entwickelt, die von Zuwanderung geprägt sind. 180 Meter hoch, soll das Doppelhochhaus an der Scheich Zayed Straße, die Dubai mit Abu Dhabi verbindet, errichtet werden. Das Projekt befindet sich in der Finanzierungsphase.

Photo Credit: Ali and Hina Jamelle