Archiv des Kölner Architekturmagazins. 2000 - 2021.

O.M. Ungers Marburger Häuser

Über die „Planung einer Wohnbebauung mit unterschiedlichem Charakter und starkem Persönlichkeitswert“

Es gibt Orte in Deutschland, da glaubt man kaum, dass man sich dort nicht in einer Kulisse bewegt, sondern umgeben ist von Echtem, Jahrhundertealtem und sorgsam Gehegten. Kitsch sagen die einen, Kultur die anderen. Auf die Liste der UNESCO Welterbestätten hat Marburg an der Lahn mit der rein gotischen Elisabethkirche es noch nicht geschafft, zu viele ähnlich schöne mittelalterliche Kernstädte gab es schon, zuletzt scheiterte 2014 die gemeinsame Bewerbung mit Tübingen als historische Universitätsstädte. Auch ohne einen Platz auf der begehrten Liste steht außer Frage, dass die am Hang vom Lahntal bis zum Schlossberg gewachsene Oberstadt ein außergewöhnliches und zudem sehr malerisches Zeitzeugnis ist. Dass dies bis heute so ist, ist auch dem umsichtigen Handeln früherer Generationen von Politikern und Planern zu verdanken. Beraten wurden sie in den 1970er Jahren von Heinrich Klotz, der von 1972 bis 1989 ordentlicher Professor am Kunstgeschichtlichen Institut der Universität Marburg war. Im Sommer 1976 schrieb Klotz einen Brief an O.M. Ungers, der damals gerade aus den USA nach Köln zurückgekehrt war, und informierte ihn über seinem „Plan, nicht nur mit dem Konzept der erhaltenden Sanierungen durchzudringen, sondern ebenso für vorbildliche Neubauten innerhalb des Altstadtbereichs Sorge zu tragen“. Im Einvernehmen mit dem damaligen Oberbürgermeister wurden Ungers (und Charles Moore) vom Magistrat der Stadt Marburg beauftragt, noch bis zum Ende des Jahres Vorentwürfe für ein Grundstück in der Ritterstraße zu machen, das direkt an das Steinerne Haus angrenzt. Dieses Grundstück in unmittelbarer Nähe zum mittelalterlichen Stadtkern, dem Markplatz, schien für die Untersuchung besonders geeignet, da sich in dem gleichen Block noch zwei weitere historisch bedeutsame Häuser befanden. Da der Bestand auf dem Grundstück selbst aber baufällig war, bestand hier eine Notwendigkeit zum Handeln, die Lösung wiederum wurde als exemplarisch für ähnliche Fälle des sogenannten integrierten Bauens in der Marburger Altstadt und darüber hinaus erwartet.

Bebauungsalternativen links Gruppe 1 Einzellösungen, rechts Gruppe 2 Stufenlösungen, Auszug aus der Broschüre zur Studie© UAA Ungers Archiv für Architekturwissenschaft

Aufgabe war die „Planung einer Wohnbebauung mit unterschiedlichem Charakter und starkem Persönlichkeitswert“. Die Bebauung sollte in die historische Bausubstand integriert werden ohne jedoch historisierend im Sinne eines Eklektizismus sein. Als Nutzung war individualisiertes Wohnen für die gebildete Mittelschicht vorgesehen, ob eine kleine Gewerbeeinheit zu integrieren ist, sollte die Untersuchung zeigen. Ungers und seine drei in diesem Zusammenhang genannten Mitarbeiter Hans Kollhoff und Thomas Will (beide Cornell University, Ithaka, New York) und K.L. Dietzsch (Köln) und gingen dabei sehr strategisch vor, wie eine kleinformatige Broschüre dokumentiert, die anlässlich einer Ausstellung seiner Zeichnung und Modelle als Ergebnisse der Studie herausgegeben wurde. Dass die zudem Stoff für zahlreiche Vorträge geliefert hat, zeigen zwei Ordner voller Dias und Zeichnungen, die sich im Ungers Archiv für Architekturwissenschaft in Köln befinden.

Lageplan und Isometrie Sockelgeschoss, Auszug aus der Broschüre zur Studie© UAA Ungers Archiv für Architekturwissenschaft

Nach aufmerksamer Beobachtung und Dokumentation der in der Marburger Oberstadt zu findenden historischen Hausformen, ihrer Konstellationen und Strukturen, wurden am Lageplan 16 Bebauungsalternativen durchgespielt. Während die drei aneinander stehenden Bestandsbauten die westliche Hälfte des schräg-rechteckigen Blocks besetzen, erarbeitete das Büro Ungeres acht Einzellösungen (von der Blockbebauung über die Spiegelung alt-neu bis zum fragmentierten Block) und als Alternative eine Lösung mit acht Stufen, in der der Block in verschiedene Einzelkörper aufgelöst wird, die schließlich durch Drehung das orthogonale Raster verlassen. Mit Referenz zur Altstadt, deren Bebauungsstruktur durch das „Voneinandergetrenntsein von Einzelbaukörpern“ charakterisiert werde, wurde die Bebauung des Grundstücks mit Einzelbaukörpern bevorzugt.

Auszug aus der Broschüre zur Studie © UAA Ungers Archiv für Architekturwissenschaft

Zwischen den einzelnen Baukörpern und dem Bestand blieben schmale Durchgänge frei, die Mitte ein Hof. Inspiriert von der Vielfalt der historischen Formen, der Stilelemente und ihrer schier endlosen Variabilität, entwickelte Ungers aus der Grundform des dreigeschossigen Hauses mit Dach auf einer quadratischen Grundfläche von 6,5 x 6,5 Metern eine 1. Generation von Hauskörpern in fünf Themengruppen: reguläre Baukörper mit rationalen Formenelementen, Baukörper mit geometrischen Formengruppierungen, Baukörper, die sich aus einem inneren fragilen Kern und einer rauen Schale zusammensetzen, Baukörper als lokale oder historische Zitate und Baukörper, die personifiziert sind. Und obwohl er die Morphologie des Lokalen zur Inspiration und Legitimation seines Schaffens heranzieht, ist jedes einzelne Haus ein Ungers, seine Handschrift bleibt unverkennbar. Deutlich bearbeitete er die stehenden Quader, schnitt Masse aus dem Volumen, fügte anderes ein, überzeichnete die Symmetrie oder konterkarierte sie. Er setzte Transparenz gegen geschlossene Flächen und kehrte das Innere nach außen, spielte hier sein gesamtes (postmodernes) Repertoire aus. Und dies alles nicht nur um der Form als Selbstzweck zu huldigen, sondern um in der sogenannten 2. Generation das architektonische Vokabular der ersten durch funktionale Wohnungsgrundrisse zu modifizieren und anzureichern.

Bebauungsvorschlag mit unterschiedlichen Hauskörpern mit Bezug auf die historisch gewachsene Struktur, rechts morphologischer Vergleich der Baustruktur der Altstadt. Auszug aus der Broschüre zur Studie © UAA Ungers Archiv für Architekturwissenschaft

Dies führte zu dreizehn Hausalternativen, die alle ein unabhängig von den darüberliegenden Wohnräumen zu nutzendes Erdgeschoss als Ladenlokal oder Büroraum besitzen. Die Gestaltung der Fassaden als Collage verschiedener klassischer und zeitgenössischer Materialien, rotem Naturstein, Ziegel, Putzflächen, Holz, Metall und Glas, spiegelt einerseits die Vielfalt der Innenräume wider und erscheint andererseits dem Ergebnis des jahrhundertelangen Wachsens und Sich Veränderns, der umliegenden Stadt nachempfunden. Fünf dieser Hauskörper, gleiche oder unterschiedliche, konnten auf einem festgelegten Rasterfeld verteilt werden, das als eine zweigeschossige Sockelplatte ausformuliert wurde. Mit dem bis zu fünf Meter hohen Sockel wurde der Niveauunterschied des Grundstücks ausgeglichen, ganz praktisch sollten darin im 1. Sockelgeschoss werk- und Nebenräume, im 2. Sockelgeschoss eine gemeinsame Garage Platz finden.

Ungers betrachtete den in der Broschüre „angebotenen Bebauungsvorschlag nicht als Endlösung“, vielmehr gehe es um „das Verfahren, als eine Anregung und ein Stimulans zum weiteren Nachdenken“. Der logische nächste Schritt sei nun die Weiterentwicklung konkreter Fälle unter Mitwirkung eines zukünftigen Benutzers, die dann zu einer dritten Generation von Haustypen führen werde, „für die in dem vorliegenden Entwurf aller nur erdenklicher Spielraum gegeben ist.“

Ungers hatte erkannt, dass das Marburger Stadtbild in seiner Kleinteiligkeit und Vielfältigkeit das Ergebnis eines organischen Prozesses gewesen ist, der Häuser unterschiedlicher Nutzungen, Stilarten, Materialien und Charakter zu einem großen Ganzen gefügt hat. Dieses Prinzip hat er modellhaft auf dem Plateau des Grundstücks Ritterstraße 1 nachempfunden, um den Neubau in die historische Morphologie zu integrieren. Einzelne Stilelemente, Dachformen, Öffnungen, Anbauten hat er laut eigener Beschreibung „lediglich im übertragenen Sinne angewandt und zitiert, nicht imitiert“. Dafür, dass die Vielfalt nicht als Chaos erscheint wird, dass die Unterschiede sich ergänzen und nicht widersprechen, trägt Ungers mit der vollständigen Kontrolle über das von ihm geschaffene System Sorge.

Realisiert wurden die Entwürfe nicht, auch wenn ein einzelner Hauskörper 1990 für einen konkreten Bauherrn weitergedacht wurden. Das Grundstück Ritterstraße 1 ist jedoch mit einem einzelnen Haus bebaut worden. Dessen quadratischer Grundriss, der ziegelrote Sockel mit weißgeputzte Mittelbau und leicht abgesetzter Krone sowie die Platzierung der Fenster weisen jedoch eine gewisse Ähnlichkeit mit Ungers letztem Stand auf. Das Haus bleibt jedoch weit entfernt von der unendlichen Vielfalt der Möglichkeiten, die die frühe Studie für die von Klotz gewünschten „vorbildliche Neubauten innerhalb des Altstadtbereichs“ erarbeitet hatte. Viele andere haben von Ungers Marburger Häusern gelernt.

Uta Winterhager

Dieser Beitrag erschien mit dem Titel „Wie malerisch war O.M. Ungers“ im Baumeister Heft „Pittoresk“ 5/2021. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitverwertung.

1 Kommentar

Spannender Artikel, vielen Dank. Ich war nie ein ausgewiesener Ungers-Anhänger, sein Absolutheitsanspruch stand dem entgegen. Aber immer wieder erstaunlich, welche Impulse er gesetzt hat.