Archiv des Kölner Architekturmagazins. 2000 - 2021.

Raum für die Würde des Menschen

Zum Tode Gottfried Böhms

Als jüngster von drei Söhnen von Maria und Dominikus Böhm kommt Gottfried Böhm am 23. Januar 1920 in Offenbach zu Welt. Dominikus Böhm ist da schon etablierter Kirchenbaumeister, der 1926 eine Professur an den Kölner Werkbundschulen annimmt, weshalb die Familie in die Domstadt umsiedelt. Nach dem Abitur 1938 wird Gottfried Böhm zum Militär eingezogen, 1942 verwundet und vom Kriegsdienst befreit. An der TU München nimmt er unter anderem bei Adolf Abel und Hans Döllgast das Architekturstudium auf, parallel dazu studierte er Bildhauerei bei Josef Henselmann an der Akademie der bildenden Künste München.

Im Studium lernt er seine spätere Frau Elisabeth kennen. Die beiden bekommen vier Söhne, Stephan, Markus, Peter und Paul. Markus wird Künstler und widmet sich mittels Malerei der Ausleuchtung räumlicher Situationen und Atmosphären, die drei anderen streben der Familientradition konkreter nach und werden selbst Architekten. Elisabeth Böhm wird bis zu ihrem Tod 2012 die einzige sein, deren Rat Gottfried Böhm tatsächlich auch in seine Arbeit einfließen lässt. Zahlreiche seiner Bauten sind ohne ihr Zutun nicht denkbar, viele zieren künstlerische Arbeiten aus ihrer Feder. Gemeinsam haben sie bis zuletzt fantastische Stadtutopien entworfen – nicht, um sie gebaut zu sehen, sondern um Architektur und damit Zukunft zu denken.

Wie wichtig die Familie für das Werden von Architektur für Böhm ist, wird auch klar, wenn man sich seine Dankadresse bei der Verleihung des Pritzkerpreises 1986 vor Augen ruft. Nicht nur nennt er da die Zusammenarbeit mit seinem Sohn Paul schon im ersten Absatz, er hebt auch auf die Traditionslinie des familiären Wirkens ab. Von der „Handschrift“ seines Vaters Dominikus spricht er dort, dessen Arbeit „so etwas wie ein Maßstab“ für das eigene Schaffen gewesen sei, von der „Geradheit“ seiner Frau, der er auch im „Berufsleben viel verdanke“ und davon, dass drei seiner Söhne den gleichen Beruf ergriffen haben, wie er, seine Frau und sein Vater. Über die Kraft, aber auch die Schwere dieser dynastischen Linien legt Maurizius Staerkle Drux‘ Dokumentarfilm „Die Böhms – Architektur einer Familie“ aus dem Jahr 2014 eindrücklich Zeugnis ab.

Auf der Suche nach individuellem Raumcharakter

In der Architektur strebt Böhm dabei stets dem Raum nach. Ein Sucher und Erfinder von Atmosphären, lange bevor der Begriff im Architekturdiskurs wieder populärer wurde. Schon sein erster eigenständig realisierter Bau ist getrieben von diesem Wunsch, einen eigenständigen Raumcharakter zu erzeugen. Für die kleine Kapelle St. Kolumba (1952–1958) kann er sein im Selbststudium nach dem Diplom erarbeitetes und 1949 erstmals publiziertes Konzept der Gewölbedecken konkret anwenden. Für diese sogenannten Rabitz-Gewebe werden dünne, verzinkte Drahtgewebe zwischen Hauptseile gehängt und mit einer stabilisierenden Mörtelschicht beworfen. Je nach Art der Überkreuzung dieser Seile entstehen kissen- oder kegelförmige, doppelt gekrümmte Flächen, deren Leichtigkeit filigrane Stützen und dünne Wandquerschnitte ermöglicht. Ein wunderbarer, kleiner Raum, dessen Wirkung durch die Umbauung durch Peter Zumthors Kolumba-Museum merklich an atmosphärischer Dichte verloren hat.

Die ersten Bauten wie St. Hildegard in Sulzbach/Saar-Neuweiler (1952–1955) oder die Heilig-Geist-Kirche in Essen-Katernberg (1952–1968) sind geprägt von geometrischen Figuren und Körpern, deren jeweiliges Zusammenspiel aus Tragen und Lasten deutlich ablesbar ist. Auch der Entwurf für das Kölner Wallraff-Richartz-Museum (1951) atmet erkennbar den modernistischen Geist der Nachkriegsmoderne und macht den Einfluss der eigenen USA-Reise 1951 spürbar, bei der Gottfried Böhm im Büro von Cajetan Baumann arbeitet und Ludwig Mies van der Rohe sowie Walter Gropius trifft. Nach eigenem Bekunden wird ihm hier sogar eine Professur in Boston in Aussicht gestellt, doch der Wunsch, wieder nach Köln zu gehen, ist stärker. Bis zum Tod des Vaters 1955 arbeiten Gottfried und Dominikus Böhm gemeinsam, danach führt der Sohn die begonnenen Bauten zu Ende und beginnt Anfang der 1960er Jahre eine neue architektonische Serie kristallin anmutender, expressionistischer Sakralbauten.

Expressionistische Moderne

Die Kegel und Zeltdächer der (Kirchen-)Projekte der 1950er-Jahre werden abgelöst durch massige Bauten aus Beton und Backstein, vielfach gebrochen und vielwinklig aufgetürmt. Allein in Köln vermitteln etwa St. Gertrud (1960–1967) und die Pfarrkirche Christi Auferstehung (1963–1970), welche Kraft diese Raumschöpfungen bis heute entwickeln. Mit dem Rathaus in Bergisch Gladbach-Bensberg (1962–1968), dem Altenheim und Pfarrzentrum in Düsseldorf-Garath (1962–1972) und nicht zuletzt der Wallfahrtskirche Maria Königin des Friedens nebst angeschlossenem Schwersternhaus in Velbert-Neviges (1961–1973) kommen weitere Bauten dazu, die Böhm internationales Renommee und neben vielen Auszeichnungen letztlich auch die höchste Weihe der westlichen Architekturwelt einbringen: den Pritzkerpreis für Architektur.

In der Folge werden die Bauten gewissermaßen materiell entmythologisiert. Glas und Stahl ersetzen rohen Sichtbeton und Ziegel erneut, die Formensprache bleibt dabei bemerkenswert eigenständig. Bis 1974 entsteht in Köln-Chorweiler ein großes Ensemble sozialer Wohnbauten, dessen Balkone, Erker und Laubengänge farbenfroh und raumbildend – gerade aus heutiger Sicht – für diese Bauaufgabe wünschenswert sind. Mit dem Konzept des „eingehausten Stadtraums“ entstehen öffentliche Bauten, die Haus und Stadt auch im Inneren zu verzahnen suchen: das Diözesanmuseum in Paderborn (1969–1986) etwa, oder das Bürgerhaus Bergischer Löwe in Bergisch Gladbach (1974–1981) und das Bezirksrathaus Köln-Kalk (1986–1992). In diese Phase fällt auch der Bau des Verwaltungsbaus für Züblin in Stuttgart (1981–1985) und weitere großmaßstäbliche Projekte, bei denen Böhm mit dem Element der Halle experimentiert, die durch Treppen und Brücken überspannt und durchkreuzt wird.

Brücken und florale Schalen

Spätestens mit dem Wettbewerbsbeitrag infolge eines Gutachtens für den Umbau des Reichstags in Berlin beschäftigt sich der Architekt mit der Übertragung des schon in Bildern, Bodenmosaiken und Wandmalereien erprobten floralen Motivs von sich umschließenden Blättern. Übersetzt werden sie beim Reichstagswettbewerb 1992 zu Schalen, die den Plenarsaal überwölben. In Zusammenarbeit mit den Söhnen Stephan, Peter und Paul entstehen die WDR-Arkaden in Köln (1991–1998), das Stadthaus in Deutz (1993–1998) – die die bei Züblin eingeführten Brückengänge motivisch fortschreiben – und die Köln-Arena (1996–1998). Das Hans-Otto-Theater in Potsdam (1995–2006) und die Zentralmoschee in Köln-Ehrenfeld (2006–2018) nehmen das Bild der raumbildenden Schalen des Reichstagsentwurfs schließlich ganz konkret auf.

So unterschiedlich die Bauten im Laufe der Jahrzehnte formalästhetisch waren, so sehr gleichen sich die Entwurfszeichnungen – meist mit Kohle und kräftigem Strich –, aus denen schon der Wunsch nach einem jeweils charakteristischen Raumeindruck spricht. Ein Streben, das Gottfried Böhm im Rahmen der Verleihung des Pritzkerpreises so zusammenfasst: „Ein Gebäude ist für den Menschen Raum und Rahmen seiner Würde, und dessen Äußeres sollte seinen Inhalt und seine Funktionen reflektieren.“

Zu Böhms 100. Geburtstag im vergangenen Jahr organisierte der Kölner Diözesanbaumeister Martin Struck eine Messfeier in Kolumba, die Kardinal Woelki hielt und bei dem neben Böhms Kindern und einigen Freunden auch der Schweizer Architekt – und ebenfalls Pritzkerpreis-Gewinner – Peter Zumthor anwesend waren. „Ein bisschen komisch“, fand Böhm die Zeremonie, schließlich sei er selbst „kein Heiliger“, wie er gegenüber dem Dom-Radio kundtat. Wie sein Erstlingswerk von Zumthor umbaut wurde, gefiel Böhm bis zuletzt nicht: „Aus dem Stadtbild herausgenommen“ sei die Kapelle so, die von Ludwig Gies entworfenen Chorfenster „ganz ins Abseits geraten“. Am Ende, so bekannte er im gleichen Interview anlässlich seines 100. Geburtstags, wurde „alles so schwierig, auch das Denken“. Am Mittwoch nun ist Gottfried Böhm im Alter von 101 Jahren in Köln gestorben.

David Kasparek