Archiv des Kölner Architekturmagazins. 2000 - 2021.

Wo der Zukunftsoptimismus überlebt hat

Cordula Schulze im Gespräch mit Stefan Thoben über seine Radreise durch das Ruhrgebiet und die Schätze der Nachkriegsmoderne

Im Sommer vor der Pandemie postete Stefan Thoben auf Instagram die unterhaltsamsten Bilder aus dem Ruhrgebiet. Er war unterwegs mit dem Rad, traf interessante Leute und kam an Orte, die man weder als Einheimischer noch als Besucher jemals so richtig kennenlernt. Zum Beispiel die Stellen, wo der Pott ländlich wird, wo Großstädte aufeinandertreffen und die Gegenden, die im Stadtmarketing nie vorkommen.

Liebes Mülheim – jede Stadt bekommt einen Brief

Stefan Thoben

Jetzt, gut eineinhalb Jahre später, ist Stefans Buch „Ein Traum in Bunt“ erschienen. Darin zeichnet der Journalist, der zwischen Hannover und Berlin pendelt, seine vierwöchige Reise nach. 23 Städte, 1.500 Kilometer mit dem Rennrad. Die Idee mit dem Buch ist ihm erst unterwegs gekommen, erzählt er. Aber zum Glück führt er „sehr akribisch“ Reisetagebuch und dokumentiert mit seiner Kamera die einzelnen Stationen seiner Reise. So war mehr als genug Material für seinen reich illustrierten Reisebericht mit kurzen Texten, Briefen an die besuchten Städte und einige ebenfalls gut lesbare längere Beiträge, die sich Ruhrgebietsthemen wie zum Beispiel dem Strukturwandel oder Ewigkeitsaufgaben widmen. Prädikat: radikal subjektiv, sehr unterhaltsam und unbedingt lesenswert.

Und warum erzähle ich das alles? Als ich das Buch Mitte April endlich beim Buchhändler abholte, fiel mir gleich auf, wieviel Nachkriegsarchitektur sich darin tummelt. Von den bekannten Highlights bis hin zu völlig alltäglichen Gebäuden oder urigen unrenovierten Unterkünften des Reisenden. Das fand ich interessant, denn der Pott ist so reich an Themen, dass ich damit jetzt nicht gerechnet hätte. Ich freue mich, dass Stefan meiner Einladung folgte, ein E-Mail-Gespräch über die Nachkriegsarchitektur im Ruhrgebiet und ihren Anteil an seinen Entdeckungen zu führen.

Die „verrutschte Torte“ in Herne in charmant ländlicher Ansicht. Architekt Werner Stemmermann, Bauzeit 1978-81. Foto: Stefan Thoben.

Du bist genau einen Monat kreuz und quer durchs Ruhrgebiet geradelt und erzählst in deinem Buch viel – vor allem viel Positives – von Nachkriegsarchitektur. Wie kommt es dazu?

„Die Nachkriegsmoderne hat mich schon immer interessiert, beziehungsweise genauer gesagt: seit meinem Umzug nach Hannover vor mittlerweile fast zwanzig Jahren. Ich bin in Oldenburg aufgewachsen, eine Stadt, die größtenteils aus Einfamilienhäusern besteht. Meine erste Wohnung in Hannover war ganz in der Nähe vom Ihme-Zentrum, einem der größten brutalistischen Baukomplexe Europas – für mich war das Kulturschock und Erweckungserlebnis zugleich.“

Auf Platz eins der Lieblingsnachkriegsgebäude des Autors: das Rathaus in Marl. Die Entwürfe für das fortschrittsoptimistische Ensemble kommen von Jacob Berend Bakema und Johannes Hendrik van den Broek, Bauzeit war 1960-67. Foto: Stefan Thoben.

Was hat dich so fasziniert? Lag die Faszination in der Ästhetik? Weckt sie bestimmte nostalgische Gefühle? Ist es vielleicht auch so ein bisschen Zuschreibung zum gammeligen Pott?

„Beim Ihme-Zentrum und auch bei den nachkriegsmodernen Bauten im Ruhrgebiet fasziniert mich zunächst einmal die Ästhetik. Die meisten Menschen finden solche Bauten ja eher abstoßend oder gar beängstigend. Ich habe für mich dann überlegt, woher meine Faszination stammt. Meine erste Erklärung war, dass diese Bauten einen Bezug zu den 60ern und 70ern herstellen – eine Zeit, die ich selbst nicht erlebt habe und in der meine Eltern jung waren. Es hat also definitiv mit Projektion zu tun. Als ich dann auf Jacques Derridas Konzept der Hauntology stieß, konnte ich meinen Deutungsansatz erweitern. Derrida bezeichnet damit die ‚offensichtliche (Nicht-)Gegenwart von Ideen, Theorien und Ideologien aus der Vergangenheit, die selbst bei ihrem Scheitern in der Gegenwart noch präsent sind und diese dadurch prägen‘. Das lässt sich ganz wunderbar auf Architektur übertragen. In den Bauten der Nachkriegsmoderne zum Beispiel verkörpert sich bis heute der Fortschrittsgeist der Zeit damals. Auch wenn einige der progressiven Ideen gescheitert sind, bleiben diese Bauten Projektionsorte einer neuen, demokratischen Stadtgesellschaft.“

Bochum © Stefan Thoben

Das gilt ja nicht nur für die westdeutsche Nachkriegsmoderne.

„Ja, analog dazu lässt sich zum Beispiel auch sozialistische Architektur betrachten, die ich genauso spannend finde, egal wie trist und trostlos der real existierende Sozialismus letztlich gewesen sein mag. Sehr aufschlussreich, um meine nostalgischen Gefühle und Assoziationen weiter zu entschlüsseln, war die Lektüre von Mark Fisher, der Derridas Hauntology-Konzept weitergedacht und mit Kapitalismuskritik verknüpft hat. Fisher hat den Trend zu einer künstlerischen Retroästhetik damit begründet, dass die Rückbezüge sich auf eine Vergangenheit beziehen, in der noch eine andere Zukunft möglich erschien. Heute dagegen sei es einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus, lautet Fishers Kernthese. Für mich ist das die bislang beste Erklärung dafür, wieso ich die Nachkriegsmoderne so interessant finde und als Fotomotiv schätze: Damals schien es eben noch Alternativen zum Spätkapitalismus zu geben und hatte die Globalisierung noch nicht zur unkontrollierten Entfesselung der Finanzmärkte geführt. Viele Bauten verkörpern diesen Zukunftsoptimismus auf farbenfrohe und verspielte Weise, bevor in der Ära Kohl dann die schleichende Neoliberalisierung einsetzte.“

Hast du die vielen Perlen der Nachkriegsarchitektur auf deiner Route bewusst gesucht? 

„Ich hatte das Glück, dass begleitend zu dem Baukultur NRW-Projekt Big Beautiful Buildings eine Datenbank mit den wichtigsten Bauwerken online gestellt wurde. Eine Woche vor meiner Reise erschien dazu im Verlag Kettler der tolle Architekturführer ‚Architektur der 1950er bis 1970er Jahre im Ruhrgebiet: Als die Zukunft gebaut wurde‘, den ich mit auf die Reise genommen habe.“

Das Dortmunder Centrum für Medizin und Gesundheit DOC © Foto Stefan Thoben

Wie hast du das in die Reise integriert? 

„Ich hatte auf meiner Reise mehrere rote Fäden, weil mich einfach so viele verschiedene Dinge interessieren. Ich war auf der Route der Industriekultur unterwegs, habe literarische und popkulturelle Orte besucht, zum Beispiel auf den Spuren des Bochumer Popliteraten Wolfgang Welt. Ich habe Fußballstadien abgeklappert; das Ruhrstadion stand praktischerweise auch in dem Architekturführer. Grundsätzlich hat mich alles interessiert, was mit dem Strukturwandel zusammenhängt und da konnte ich dann öfters mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: bei Einkaufszentren wie dem Marler Stern oder Kulturbauten wie dem Lehmbruck-Museum oder Bochumer Schauspielhaus. Du müsstest mal meine Google Maps vom Ruhrgebiet sehen: Da ist alles voller Markierungen, und die habe ich im Zickzackkurs angesteuert.“

Fußballstadion
Ein brutalistischer Leckerbissen und natürlich ein Ort für fußballinteressierte Reisende. Manchmal passt es! Ruhrstadion Bochum, Entwurf durch das Städtische Hochbauamt, Bauzeit 1976-79. © Foto Stefan Thoben

Leider warst du von Marl ja ein bisschen enttäuscht. Welches war denn dein Lieblingsstück Nachkriegsarchitektur im Ruhrgebiet? Und warum?

„In Marl hat mich nicht die Architektur enttäuscht, sondern die städtebauliche Akzeptanz der Bauten. Ohne Menschen funktioniert die beste Architektur nicht. In der ‚Neuen Stadtmitte‘ von Castrop-Rauxel rund um den Europaplatz habe ich das ganz ähnlich erlebt, da waren schlicht keine Menschen außer mir. Rein ästhetisch hat mich das Rathaus Marl tatsächlich am meisten begeistert. Dicht gefolgt von zwei futuristischen Dortmunder Bauten: dem DOC direkt gegenüber vom Hauptbahnhof und der Mensa der TU Dortmund. Und dass ich das Audimax der Ruhr-Universität Bochum erst an vierter Stelle nenne, macht deutlich, was für architektonische Perlen sich da im Ruhrgebiet versammeln.“

Mittlerweile in Investorenhand: das ehemals inhabergeführte Hotel Noy in Mülheim. Hoffen wir das Beste für den schmucken Bau aus den 50ern. Foto: Stefan Thoben.

Deine Unterkünfte sind ja Teil der Erzählung, teilweise auch mit Abbildungen. Hast du bewusst solche für Zeitreisen geeigneten Hotels ausgesucht, mit Aschern im Bad und dem Gefühl, dass Schimi gleich reinstürmt?

„Ja, da sind wir wieder bei Derrida, Fisher und der Hauntology. In meiner Kindheit waren Hotels für mich Symbole für Luxus und Komfort; heute erlebe ich moderne Hotelketten häufig als austauschbar und es geht vor allem um möglichst effiziente Massenabfertigung. In diesem Punkt lässt sich mein Buch auch als Tourismuskritik lesen. Ich liebe einfach diese altehrwürdigen, klassisch eingerichteten Hotels mit ihren ganz eigenen Geschichten. Während in Google-Rezensionen ‚altmodisch eingerichtet‘ meist als Minuspunkt vorgebracht wird, war es bei mir das alles entscheidende Buchungskriterium.

Wobei ich damit nicht schäbige Hotels meine, was mir manchmal von Freunden unterstellt wird, nur weil die Teppichböden vielleicht mal einen Zigarettenfleck haben. Mein Mülheimer Hotel, das mit 70 Euro zu meinen teuersten Unterkünften zählte, wurde in einer Rezension als ‚a real 60s showroom‘ beschrieben. Als der Inhaber, Herr Noy, dann erzählte, dass Harald Juhnke, Helmut Kohl und Curd Jürgens zu Gast gewesen seien und ich die Designermöbel sah – auf meinem Zimmer zum Beispiel ein Alu Chair von Charles & Ray Eames –, war ich ganz hin und weg. Leider haben die Noys das über mehrere Generationen geführte Hotel letztes Jahr an einen Investor verkauft, der es nun auf die »neuesten Hotelstandards« bringt und es zum ‚Designer-Hotel‘ umbaut. Auch die 50er-Jahre-Fassade vom Hotel Noy soll ‚optisch aufgewertet‘ werden, was sehr schade ist, denn die ist charakteristisch für die Mülheimer City.“

Zeit für eine Pause: Büdchen, Trinkhalle, Kiosk – ein Stück Ruhrgebiet, das noch nicht dem Strukturwandel zum Opfer gefallen ist, auch wenn ihre Zahl langsam abnimmt. Dieses vorbildliche Exemplar steht im Essener Stadtteil Bergeborbeck. Foto: Stefan Thoben.

Die meisten Leute verstehen leider nicht, auf welchem Schatz sie da sitzen. Wie früher mit der Industriekultur – der alte Krempel soll weg.

„Ja, genau. Die Nachkriegsarchitektur wird allgemein – nicht bloß im Ruhrgebiet – wenig wertgeschätzt. Und auch die altmodischen Hotels sollen eben weg beziehungsweise werden weniger nachgefragt und verschwinden dadurch zusehends. Nur leider sind viele der vermeintlich ‚modernen‘ Hotels mit ihrer stereotyp-ikeamäßigen Inneneinrichtung zu einem Inbegriff für Einheitsbrei geworden. Für mich sind das moderne Nicht-Orte. Wenn du an der Einrichtung deines Hotels keinen Unterschied erkennen kannst, ob du grad in New York, Amsterdam, Tokyo oder Oberhausen bist, droht uns das gleiche Phänomen, das in unseren Innenstädten mit H&M, Zara, Starbucks, McDonald’s und Co. längst zu beobachten ist. Wobei ich die ‚big players‘ nicht grundsätzlich ablehne: Das Maritim-Hotel in Gelsenkirchen zum Beispiel ist ganz wunderbar!“

Weiter, immer weiter … wer noch mehr wissen will, für den gibt’s hier Links und Tipps:

  • Den frisch erschienenen Band von Stefan Thoben gibt’s im Verlag Reiffer.
  • Eine Leseprobe von „Ein Traum in Bunt“ gibt es hier
  • Die WDR-Kultursendung Scala war mit Stefan im Ruhrgebiet unter anderem auf den Spuren des Autors Wolfgang Welt unterwegs. Zehn unterhaltsame Hörminuten
  • Wer wie ich das Buch von Chargesheimer und Böll über das Ruhrgebiet aus den 50er-Jahren lesen möchte, auf dessen Spuren Stefan unterwegs war, muss tief in die Tasche greifen. Eine Alternative ist der Ausstellungskatalog Chargesheimer – Essen, Ruhr Museum – Die Entdeckung des Ruhrgebiets, erschienen bei Walter König. Den kann man auch antiquarisch erwischen.

Das Gespräch führte unsere Autorin Cordula Schulze. Sie ist im Ruhrgebiet aufgewachsen und lebt nach längeren Stationen in Köln, Südfrankreich und London nun seit 20 Jahren in Karlsruhe. Die Redakteurin erkundet Städte und Orte mit der Kamera – über die klassischen Reisemotive hinaus. Ihr Blick gilt den Veränderungsprozessen, aus der Zeit gefallenen Ecken, Stadtlandschaften und solchen Orten, die gelebte Geschichte erzählen. Sie interessiert sich für die Architektur der Moderne insgesamt und der Nachkriegszeit im Speziellen. In ihrem Blog schreibt sie über ihre Foto-Erkundungen, aber greift auch über verwandte Themen der Moderne oder der Fotografie auf. schulze-foto.de.