Archiv des Kölner Architekturmagazins. 2000 - 2021.

Die Stadt der nicht eingetroffenen Zukunft

Was weg ist, ist hier. Neustadt von Julius von Bismark und Marta Dyachenko am Emscherkunstweg eröffnet

Wie wäre es denn, wenn für jedes Haus, das irgendwo abgerissen wird, an anderer Stelle ein kleiner Statthalter der gleichen Gestalt aufgestellt werden müsste? Hätten wir dann bald stetig wachsende Areale, die gleich unseren Friedhöfen zu Orten des Erinnerns werden? Genau das ist Neustadt. Denn die Häuser von Neustadt sind längst verloren. Jedes der 23 kleinen Häuser, die Kirchen, die Wohntürme, die Schwimmbäder und Schulen, die die Julius von Bismarck in Zusammenarbeit mit Marta Dyachenko auf einer Brache am Landschaftspark Duisburg-Nord im Maßstab 1:25 aufgebaut hat, ist Stellvertreter eines Originals, das irgendwann zwischen dem Jahr 2000 und heute abgerissen wurde. Das ist so traurig, dass wir sie in den Arm nehmen und beschützen, sie festhalten und retten möchten.

Julius von Bismarck, und Marta Dyachenko sitzend und lehnend am Gammel-Wohnhaus aus Hamm, im Hintergrund der City-Wohnturm aus Bergkamen © Foto Daniel Sadrowski

Es ist aber auch sehr tröstlich, denn das Verlorene bekommt man normalerweise nie wieder zu Gesicht. Nur hier auf diesem frisch geharkten Stückchen Land, das nicht Mini-Stadt, Mini-Land oder Mini-Welt sein will. Kein Touristenprogramm, wo man in zehn Minuten einmal durch Europa stiefelt, um schließlich dem Mailänder Dom Auge in Auge gegenüberstehen kann. Natürlich setzt von Bismarck auf der Maßstabs-Ebene diesen niederschwelligen Zugang an, aber sein Blick ist nicht wie dort üblich nach hinten auf das Schönste und Beste aller Zeiten gerichtet, sondern in die Zukunft. Er will keine Erinnerungsmaschine schaffen, sondern eine Ideenmaschine. Seine „Neustadt“ ist fiktiv, dennoch zählt sie als 54. Stadt der Metropolregion, die sich zur Gegenwartsbewältigung sehr intensiv mit ihrem gestern und morgen beschäftigen muss.

Julius von Biskarck bei der Verladung auf das Pontonschiff MUFLON 09 © Foto: Heinrich Holtgreve / Emscherkunstweg

Julius von Bismarck (*1983 in Breisach am Rhein) lebt und arbeitet in Berlin. Er sagt, Architektur berühre ihn, Neubauten frustrieren ihn. Dabei ist das Gebaute für ihn immer mehr als das rein Materielle, es ist Zeugnis von etwas. Der Palast der Republik wurde abgerissen, weil die Vision des sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaates in Deutschland gescheitert war. Für von Bismarck war der Abriss traumatisch, ein Beispiel für falschen Umgang mit Baugeschichte, der nichts zur Bewältigung beitrage. Den von der Politik gewollten Wandel sieht er kritisch, denn er fordert Opfer.

Eine von drei Kirchen in Neustadt, St. Stephanus, Essen @ Julius von Bismarck

Als Britta Peters, künstlerische Leiterin Urbane Künste Ruhr Julius von Bismarck fragte, ob er sich ein Projekt im Ruhrgebiet vorstellen könnte, nahm er diesen Gedanken wieder auf. Gemeinsam mit Marta Dyachenko (*1990 in Kiew), die Architektur und Kunst studiert hat, suchte er zwischen Duisburg und Dortmund nach Häusern, die es nicht mehr gab, weil der Strukturwandel des Ruhrgebiets und die veränderten sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen sie überflüssig gemacht hatten. Gut ein Jahr dauerte die Recherche, die Suche nach den verlorenen Zeugnissen des Alltags, der unbekannten Seite der Industriekultur. Mit Fotos und Videos rekonstruierten sie die Fehlstellen, um Häuser und Visionen aus Beton, Stahl und Acrylglas mit viel Gespür für die richtige Balance aus Abstraktion und Detailgenauigkeit nachzubauen. Nicht Modelle, sondern Skulpturen nennen sie die kleinen aber bis zu 6,6 Tonnen schweren Häuser, die im Berliner Atelier von vielen Händen geschaffen wurden.

Unterwegs vom Berliner Borsighafen am Tegeler See über nach Duisburg © Foto: Heinrich Holtgreve / Emscherkunstweg

Zu ihrem jetzigen Standort in Duisburg kamen sie per Schiff. Mit 10 Kilometern pro Stunde bewegten sich Kunst, Künstler und Künstlerin auf dem Wasserweg durch Deutschland und nutzen die sieben vollkommen entschleunigten Tage dieser Reise, um aus dem Ponton eine Bühne zumachen. Dabei hatten sie viel Zeit für einen anderen Blick auf Deutschland und Zeit für Gespräche mit geladenen Gästen, über die ein Film berichten wird.

Zwischen den Weißen Riesen: Mietshaus mit Supermarkt, Essen @ Studio Bismarck

Zurück nach vorne blicken

Neustadt, die neue Stadt der toten Häuser, wurde nun als 19. Projekt des Emscherkunstwegs auf einem etwas abseits gelegenen Zipfel Land zwischen dem Landschaftspark Duisburg-Nord, der alten Emscher, dem Fahrradweg Grüner Pfad und der Autobahn A 42 gegründet, mehr Adresse gibt es nicht. Es ist eine sorgfältige Komposition auf leicht hügeligem Gelände. Der Städtebau, am Modell entwickelt, ist klassisch, zwei Achsen, eine gute Ordnung, schöne Perspektiven. 22 Häuser, die für das Wohnen stehen, für das Lernen, den Spaß, den Glauben, das 23., ein Kraftwerk, ist noch in Arbeit. Seltsam die Vorstellung, dass sie alle nicht mehr gebraucht wurden, dass sie für Utopien standen, die gescheitert sind, dass aus dem als Wahrzeichen geplanten City-Wohnturm eines unbekannten Architekten aus Bergkamen ein Brennpunkt, ein großer Fehler wurde, der eliminiert werden musste. Fast zu perfekt ist da die sich im Hintergrund abzeichnende Skyline des stillgelegten Hüttenwerks Meiderich.

Der Landschaftspark Duisburg-Nord entstand um das Stillgelgte Hüttenwerk in Duisburg Meiderich (hier im Bildhintergrund) im Rahmen der IBA Emscherpark, vorne Neustadt: links die Weißen Riesen aus Kamp Lintfort, dahinter das Hallenbad Marl, rechts der dreiteilige Wohnkomplex Hamm © Daniel Sadrowski

Kalkulierter Wildwuchs

Julius von Bismarck hält den Abriss von Betongebäuden für ökologischen Wahnsinn, seine erst schwimmende, nun fest installierte Stadt sollte auch als ein Appell für die Umnutzung des Bestands verstanden werden. Das ist eine erschreckend nüchterne Aussage für ein so poetisches Werk. Noch ist alles sehr neu und das Bild eines Friedhofs ist ganz stark. Aber die Skulpturen werden altern, nicht alle Oberflächen sind versiegelt, Moos, Gras und Büsche werden darauf und dazwischen wachsen. Leute werden kommen, sich draufsetzen und wie Riesen für Fotos posieren. Von Bismarck will den Wildwuchs zulassen, er will die Arbeit lebendig halten und vor allem will er, dass die Diskussion um eine nachhaltigere Baupolitik fortgeführt wird.

Uta Winterhager

Neustadt ist ab Samstag, 1. Mai 2021 geöffnet.

ADRESSE Landschaftspark Duisburg-Nord
Emscherstraße 71, 47137 Duisburg
Zwischen Emscherpromenade und Grüner Pfad, nordwestlich des Großen Parkplatz Landschaftspark Duisburg-Nord GPS 51.484445, 6.790881

ÖPNV Von Duisburg Hbf. mit Straßenbahn 903 (Richtung Dinslaken Bahnhof) bis Haltestelle Theodor-Heuss-Str., zu Fuß weiter in Fahrtrichtung ca. 200 m, dann links auf Grüner Pfad durch die Autobahnunterführung

1 Kommentar

Oh, ein neues ‚Minidom‘ mit gesellschaftskritischem Anspruch im Landschaftspark DU-Nord.