Archiv des Kölner Architekturmagazins. 2000 - 2021.

Verstehen, was die Straße sagen möchte

Ein Interview mit dem künstlerischen Leiter des Cityleaks Festivals, Georg Barringhaus.

Das Cityleaks Festival hat sich von der reinen Wandmalerei entwickelt zu einem Urban Art Festival, das auch die Stadtentwicklung betrachtet. Wir haben uns von dem künstlerischen Leiter des Cityleaks, Georg Barringhaus, einführen lassen in die Welt der Urban Art und mit ihm über den Wandel von Ehrenfeld gesprochen.

Beginnen wir mal mit einer Einordnung der Begriffe. Was unterscheidet Streetart, Urban Art und Graffiti – oder was sind die Gemeinsamkeiten?

Georg Barringhaus: Sie alle intervenieren im öffentlichen Raum. Urban Art ist ein ganz junger Begriff und es gibt verschiedene Definitionen. Wir verstehen unter Urban Art Kunst, die sich mit dem öffentlichen Raum beschäftigt. Eine Kunst die interdisziplinär ist, die du in der bildenden, darstellenden, angewandten Kunst vorfinden kannst. Und wenn man sie dann unterscheidet von der klassischen öffentlichen Kunst, dann ist es eine Kunst, die vor allen Dingen temporär ist. Street Art und Graffiti sind Strömungen in dieser Urban Art. Graffiti, das New York Style Writing, als die älteste. Die Streetart kommt erst später, in den 90er Jahren dazu. Da sehen wir auf einmal neue Formen der malerischen Intervention in den Straßen, kleine Paste-Ups, kleine Zeichnungen, diese Stencils. Und dann irgendwann auch die großen Murals. Später kommt der Begriff der Urban Art als so eine Art Dachbegriff hinzu. Er Versucht diese verschiedenen Strömungen alle zusammenzubringen. Ein anderes wichtiges Merkmal für uns ist das der ortsspezifischen Produktion und das Autorisierte und Selbstautorisierte. Graffiti ist ganz klar eine illegale Geschichte, Streetart ist es auch. Und die Urban Art ist als Dachbegriff ist auch erstmal eine Kunstform wo es um Selbstautorisierung und illegale Praktiken geht.

Bei so einem Festival wie dem Cityleaks ist es dann ja aber nicht mehr illegal.

GB: Es ist erst einmal ein augenscheinlich großer Widerspruch: selbst autorisieren, andererseits ist so ein Festival da um zu kommissionieren, um Produktionen zu ermöglichen, zu vermitteln und zu dokumentieren. Dieser Widerspruch ist nur schwierig aufzulösen. Wir als Festival versuchen, die Grenzen des öffentlichen Raums auszuloten. Räumliche Grenzen, aber natürlich auch Grenzen, die mit der Reglementierung zu tun haben. Und so finden wir in unserem Programm auch viele Interventionen die von uns kommissioniert und autorisiert sind aber die keine Autorisation von irgendeiner anderen Institution wie der Stadtverwaltung erfahren würde.

"Ohne dich würde ich mich nicht trauen" von Herakut am Bürgerzentrum in der Venloer Straße. Entstanden beim Cityleaks-Festival 2011. Foto: Vera Lisakowski
„Ohne dich würde ich mich nicht trauen“ von Herakut am Bürgerzentrum in der Venloer Straße. Entstanden beim Cityleaks-Festival 2011. Foto: Vera Lisakowski

Was machen die künstlerischen Interventionen – egal ob legal oder illegal – mit der Umgebung? Was habt ihr für Erfahrungen beim Bau der temporären Architektur in den sonst ungenutzten Bahnbögen gemacht?

GB: Das, was wir jetzt beobachten, weil wir öffentlich bauen und auch partizipativ bauen, ist, dass Menschen auf uns zukommen und mit uns sprechen. Wir stellen eine Verbindung her zwischen den Leuten, die dort bauen, und den Passanten. Wir stellen eine Verbindung her zwischen der ungenutzten Architektur und der Vorstellung von einer Architektur. Mit dem Festival wollen wir Impulse geben an die Stadtgesellschaft und die Stadtverwaltung. Die Nachbarn haben eine Beziehung zu diesem Ort, die ärgern sich darüber, dass er leer ist und wissen nicht warum. Sie denken, da könnte irgendwas sein. Und jetzt kommen wir und fangen an sie zu fragen, was stellt ihr euch für diesen Ort eigentlich vor? So geht man in eine Auseinandersetzung zu dem Raum. Diese Kunst stellt einen Diskurs zum Raum her, der anders vielleicht gar nicht so einfach möglich gewesen wäre.

Ihr stellt die Frage nach der Zukunft des Stadtteils. Aber was ist die Ausgangslage: Was habt ihr beobachtet, wie sich Ehrenfeld gewandelt hat und wie seht ihr eure Rolle darin?

GB: Ehrenfeld hat sich sehr, sehr stark gewandelt und wir sind Teil dieses Wandels. Es geht ganz stark um die Frage von Verdichtung von Räumen und um die Frage der Verdrängung. Es geht um die Frage, wo dieser Wandel hinführt und wo dieser Stadtteil eigentlich herkommt. Und da ist Kunst und Kultur natürlich ein großer Teil davon. Und diesen Fragen städtischen Wandels, der Verdrängungsprozesse, der Rolle von Kunst und Kultur in diesem Prozess, dem wollten wir uns dieses Jahr stellen. Ehrenfeld ist diese klassische Geschichte von einem Industriestandort, der zu einem Kreativstandort wird. Bis zu dem Moment der heutigen Fülle in Ehrenfeld liegen jetzt erst einmal 20 Jahre Leere. Dafür steht auch die Lichtstraße wo früher Zahnräder und Leuchtturm-Technik industriell produziert worden sind. Die Anlagen sind dann Ende der 80er, Anfang der 90er stillgelegt worden, weil es sich nicht mehr rentiert hat. Dann kamen die Künstler, die Handwerker. Diese Gruppe von Menschen nimmt sich nun dieser Leerräume an, die damals entstanden sind. Das macht das natürlich attraktiv. Wir sind hier bei diesem klassischen Zyklus der kreativen Stadt. Die Idee, dass durch Kunst und Kultur eine Aufwertung stattfinden kann, die nachher in konkrete Stadtentwicklungsprozesse überführt werden kann. Ein Konzept das du überall in der globalen Stadt siehst und das auch so angewandt wird, von der Stadtplanung selber. Und wir als Festival, das sich in der ersten Ausgabe ausschließlich mit Wandmalerei beschäftigt hat, tragen natürlich genau dazu bei. Mit dieser Aufwertung kommen die Touristen, kommen die jungen kreativen Menschen, die hier wohnen wollen. Häufig kommen am Ende dann Kreativagenturen. Das spürt man in der Lichtstraße ja auch. Was dann am Ende des Zyklus stehen kann, wenn man nicht darauf achtet, die Identität und Werte und diesen Entwicklungsstrang irgendwie zu konservieren und zu respektieren, sind soziale und identitäre Leerräume. Dass keine Menschen mehr da sind, die damit etwas anfangen können, sondern die es sich einfach nur annehmen und aufsetzten, ohne das wirklich für sich verinnerlicht zu haben. Das ist eigentlich die schlimmste Vision, die man von dieser klassischen kreativen Stadt in ihrem Zyklus erwarten oder beschreiben könnte.

Du sagst, das Cityleaks Festival sei Teil dieses Wandels, man kann auch viele der Wandgemälde der vergangenen Festivals in Ehrenfeld noch sehen, trotzdem betonst du das Temporäre der Urban Art.

GB: Auch die Wand ist für uns ein temporäres Medium. Die Stadt Köln spricht von einer Bestandsdauer von zwei bis sechs Monaten für temporäre Kunst. Alles darüber ist dauerhafte Kunst. Für uns sind diese aber letztendlich auch einem Wandel ausgeliefert. Was wir zum Beispiel machen, ist mit den Eigentümern kleine Gestattungsvereinbarungen aufzusetzen. Da verankern wir immer eine zweijährige Bestandsprüfung. Nach zwei Jahren gehen wir noch einmal auf die Eigentümer zu, fragen wie es um das Wandgemälde steht. Vielleicht hat sich in der Zwischenzeit ein Nachbar gemeldet oder es wird gebaut. Wir denken noch mal darüber nach, ob das Bild noch zeitgemäß ist und in den Kontext immer noch passt.

Abstraktes Gemälde von SEDZ / Ronald van der Voet auf der Seitenwand eines Gebäudes an der Leyendeckerstraße. Foto: Vera Lisakowski
Abstraktes Gemälde von SEDZ / Ronald van der Voet auf der Seitenwand eines Gebäudes an der Leyendeckerstraße. Foto: Vera Lisakowski

Ist es im Laufe der Jahre einfacher oder schwieriger geworden, Wände für die Kunst zu bekommen?

GB: Ich würde schon behaupten, dass sich in den letzten acht Jahren was getan hat. Wo man anfänglich vielleicht zehn Wände angelaufen hat und dann eine Wand funktioniert hat. Wir merken, dass die Leute bei vielen Hausverwaltungen und Immobilienbesitzer dem offener gegenüberstehen.

Ist das vielleicht für sie auch eine Art Marketing?

GB: Ja klar, und das ist ja auch einer der größten Kritikpunkte an diesen Wandmalereien im Muralismus, dass er für Marketing und für Werbung und Kommerz missbraucht wird. Das ist auch innerhalb dieser Kunstszene ein ganz, ganz elementarer Diskurs. Wenn ich darüber spreche, dass die Kunst subversiv ist, provoziert, dass sie vielleicht sogar unautorisiert, selbstautorisiert produziert ist, dann ist das Mural ja genau das nicht. Es ist nicht illegal. Im schlimmsten Fall ist es auch einfach nur was Schönes oder eine versteckte Werbung drin und von den ganzen Kriterien, die ich genannt habe, erfüllt es dann eigentlich ja gar nichts mehr.

Und wie verhaltet ihr als Festival euch demgegenüber? Ihr macht die ja erst einmal die Kunst möglich.

GB: Einerseits ist das Mural-Programm von Festival zu Festival ein bisschen kleiner geworden, andererseits geht es bei uns um eine dezidierte Auseinandersetzung mit der Wand im Kontext und dem Künstler. Was man immer mehr sieht ist, dass einfach Wände gemalt werden, ohne dass diese Auseinandersetzung stattfindet. Dieses Ortsspezifische als weiteres Merkmal, das versuchen wir immer zu implementieren.

Würden die Künstler Aufträge annehmen von einem Unternehmen? Zum Beispiel die Wand zu verschönern mit Botschaft oder ohne?

GB: Das passiert die ganze Zeit. Wir finden hier in Ehrenfeld ein großes Werbe-Mural am Anfang der Venloer Straße. 

Man muss ja auch irgendwovon leben…

GB: Ja genau, das ist meistens das Argument von den Künstlern. Wenn ich sie damit konfrontiere und dann sage: Als es mit der Streetart losging, ging es uns genau darum, diesen städtischen, sich privatisierenden, sich kommerzialisierenden Raum aufzubrechen mit neuen Bildern. Und ihr fangt jetzt an, das Medium, was es vorher aufbrechen wollte, anzuwenden um weiter zu kommerzialisieren. Dann ist halt die Antwort: Wir müssen ja auch leben, wir müssen ja auch Geld verdienen als Maler. Das ist schwierig zu entkräften. Aber aus meinem sehr ideellen Kunstverständnis heraus ist es ist halt der falsche Weg.

Andererseits ist es natürlich schwierig: Der Maler in seinem Atelier malt auf eine Leinwand und verkauft das Bild hinterher. Bei einem Gebäude kann einen dann letztlich nur derjenige bezahlen, dem das Gebäude gehört.

GB: Oder wir als Festival. Ich denke, dass die meisten Kommissionen durch Festivals oder Museen vergeben werden. Und dann gibt es natürlich noch Auftragsarbeiten von Hauseigentümern, das sieht man ja auch immer mehr in der Stadt Köln, dass sich jemand wegen des Graffitis auf der Wand grüne Büsche da drauf malen lässt. Ich persönlich freue mich immer über Farben und Motive in Städten. Andererseits kann ich auch verstehen, wenn jemand sagt: Das ist mir alles zu viel, es wird zu voll.

Übermaltes Werbe-Mural am Ehrenfeldgürtel. Foto: Vera Lisakowski
Übermaltes Werbe-Mural am Ehrenfeldgürtel. Foto: Vera

Viele sehen gerade illegale Wandbemalungen ja eher als Ärgernis.

GB: Klar, die öffentliche Meinung über Graffiti-Tagging ist schlecht. Aber für mich persönlich ist es Teil des Stadtbildes. Die Wurzel von all dem, Graffiti, ist die Aneignung von Räumen. Das sich nehmen von irgendwas, zu dem man keinen Zugang hat. Wenn man sich anguckt, wo Graffiti herkommt, dann kommt es aus Stadtgegenden von marginalisierten Jugendlichen, die keinen Zugang zu dieser Stadt haben, nicht zur Bildung, nicht zur Arbeit, zu gar nichts. Und die gehen raus und nehmen sich den Raum um diese Präsenz zu schaffen. Und so ist das mit der Aneignung des öffentlichen Raums generell. Da ist ein Bedürfnis danach sich in diesem öffentlichen Raum auszudrücken sei es auch nur mit dem eigenen Namen im Graffiti oder sei es in der Streetart mit kleinen Botschaften, Ideen oder visuellen Dingen. Oder in der Urban Art halt dann auch mit großen Produktionen. Das ist ja vielleicht auch eine Notwendigkeit von Stadt. Henri Lefebvre, der über die verstädterte Gesellschaft geschrieben hat, hat gesagt, nach der industriellen Gesellschaft kommt die verstädterte Gesellschaft. Die Stadt ist der Ort wo die Gesellschaft die Entscheidungen trifft, wie sie sein möchte. Wenn wir darüber nachdenken, wie Entscheidungen getroffen werden in der Stadt, in einem rein repräsentativen demokratischen System, dann merkt man doch ganz, ganz schnell dass das an seine Grenzen stößt. Die Frage des Demokratie-Defizits das wir haben, findet irgendwie auch einen Ausdruck darin, dass Menschen anfangen einfach zu sprechen und zu kommunizieren. Unsere Gesellschaft ist so plural geworden, dass das Bedürfnis nach neuen Foren für Ausdruck und Vermittlung einfach gebraucht wird.

Das heißt, dass Graffiti auch ein Kommunikationsmittel für bestimmte Gruppen ist?

GB: Es wird natürlich sehr viel innerhalb der Gruppe kommuniziert im Graffiti, klar Es ist erst mal nichts für Außenstehende. Aber in vielen textbasierten Interventionen sind natürlich Botschaften versteckt und Inhalte versteckt. Da geht es darum genau zuzuhören und zu verstehen, was die Straße eigentlich damit sagen möchte.

Oft sind die Botschaften sehr direkt und nicht freundlich. Ist die Provokation denn Teil dessen oder muss sie das gar nicht sein?

GB: Sie sollte es sein. Das Subversive ist natürlich auch ein Merkmal von dieser urbanen Kunst, von der Urban Art wie wir sie verstehen. Provokation muss ja nicht immer gewalttätig sein. Provokation kann auch erstmal nur verstören oder irritieren. Aber ja das ist eine ganz, ganz wichtige Komponente. Öffentlichkeit zu schaffen ist ein wichtiger Aspekt von dieser Kunstform. Und wie kommt man dahin Öffentlichkeit zu schaffen? Provokation kann ein Mittel sein.
2015 haben wir uns mit Suizid beschäftigt. Axel Void hat ein großes Wandgemälde gezeichnet von einem Menschen mit einer Plastiktüte auf dem Kopf. Das ist schon ein sehr, sehr starkes Bild für den öffentlichen Raum. Es war sogar neben einem Altenheim. Danach ging es darum, einen Diskurs zu führen: ist das in Ordnung? Geht das überhaupt? Dann haben wir festgestellt dass es funktioniert. Es ist ein zeitloses Thema was immer noch da steht, am Anfang Kontroversen hervorgerufen hat, aber im Endeffekt doch bestehen bleiben konnte.

Kannst du denn einen Trend beobachten, was die Inhalte angeht?

GB: Der Trend ist, dass viele der politischen Maler verschwinden. Es gibt immer weniger davon. Das mag auch daran liegen dass es immer mehr andere gibt, die sich nicht damit beschäftigen. Ich muss da immer an den Blu denken. Der Blu ist ein Maler der ersten Stunde von diesen großen Wandgemälden. Bei ihm ging es rein um politische Botschaften in der Malerei. Er hat aufgehört an den Wänden zu arbeiten, weil er genau das erfährt worüber wir vorhin gesprochen haben. Dass nämlich seine Wände dazu führen, dass damit Marketing gemacht wird. Dass diese Aufwertung stattfindet. Da war in Berlin-Kreuzberg ein großes Wandgemälde von ihm. Er ist dann nachts hingegangen und hat daraus ein Black Painting gemacht, also hat seine Motive übermalt, komplett schwarz gemacht. Als Statement. Heute weiß er nicht mehr, wie er produzieren soll, weil er immer das Gefühl bekommt, dass er vereinnahmt wird von anderen. Das führt dazu, dass er nicht mehr malt.

Von Matthias Hohmann aka Pomesone gestaltetes Gebäude in der Hospeltstraße. Foto: Vera Lisakowski
Von Matthias Hohmann aka Pomesone gestaltetes Gebäude in der Hospeltstraße. Foto: Vera Lisakowski

Du hast eben Berlin erwähnt. Wo in der Szene habe ich Köln einzuordnen? Vielleicht auch aufgrund des Cityleaks Festivals.

GB: Köln hat eine sehr lange Geschichte und eine unglaublich aktive Szene. Auch im Bemalen von Zügen, im Trainwriting. Wenn man sich die Wandmalerei anguckt, dann ist Köln ein Standort mit unglaublicher Fülle. Im internationalen Vergleich gesehen sticht das ganz klar heraus. Und das Festival hat dadurch, dass es sich von einem Mural-Festival in ein interdisziplinäres Kunstfestival verwandelt hat, und davon dann in ein transdisziplinäres Festival, das sich auch mit Stadtforschung beschäftigt, ein Alleinstellungsmerkmal. So ein Festival, das unter dem Urban Art Begriff funktioniert und so ein breites Spektrum abdeckt, da ist das Cityleaks schon ein sehr, sehr für sich allein stehendes Festival.

Das Cityleaks Festival läuft noch bis zum 21. September 2019, das Festivalzentrum ist in der Hüttenstraße in Ehrenfeld. 

Das Gespräch führte Vera Lisakowski.