Archiv des Kölner Architekturmagazins. 2000 - 2021.

Nadogradnje – wenn Häuser weiter wachsen

AIT Salon zeigt Arbeiten des Fotografen Gregor Theune zu informellen Dachaufstockungen

Schaut man bei Google Bilder nach, was man sich unter nadogradnje vorzustellen hat, so ist die erste Auswahl, die die Suchmaschine auswirft, sehr unerwartet: Haar-Extensions, jede Menge! Nadogradnje ist ein serbisches und kroatisches Wort für Aufrüstung, Update, Anbau oder Ausbau. Aber ob es sich um Haare handelt oder um Häuser, die Meinungen über das Ergebnis gehen auseinander.

Der Architekturfotograf Gregor Theune hat zwischen 2010 und 2014 die Region der ex-jugoslawischen Länder bereist. Entstanden sind 29 mit analoger Großformattechnik aufgenommene Arbeiten, die bis zum 9. September 2016 im AIT-ArchitekturSalon Köln zu sehen sind.

Als in den Städten des ehemaligen Jugoslawiens das Kapitel sozialistischer Planwirtschaft beendet war, begannen die Häuser an seltsamen Stellen zu wachsen: auf den Dächern. Deregulierung von politischer Seite führte zu einer Informalisierung des Stadtbilds. Kommunale Wohnblöcke wurden privatisiert, und dann oft mit bis zu drei Geschossen aufgestockt. Ob das auf legale, halblegale, illegale oder extralegale Weise geschah, ist nicht immer klar zu sagen in Ländern mit mehrfach wechselnder Gesetzeslage. Für unser Betrachterauge, gewöhnt an überregulierte Städte, sind das verblüffende Anblicke.

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Passt sich dem „Wirt“ an, ist aber etwas solider als dieser: Dachaufstockung in Belgrad © Gregor Theune

 

Viele dieser architektonischen “Parasiten“ entstanden aus purer Raumnot. Anstatt auf die Erschließung neuer Baufelder zu warten, konnte man auf den Dächern die vorhandenen Versorgungsleitungen einfach verlängern. Oder aber es ging einfach um die begehrte Penthouselage. „Bauherren“ der nadogradnje sind wohl in den meisten Fällen die Bewohner des Hauses selbst oder nahe Freunde oder Verwandte. Nicht nur mit den Behörden, auch mit den Nachbarn muss ein mehr oder weniger informelles Übereinkommen gefunden werden.

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Wildwuchs, aber doch mit Rücksicht auf den Rest: nadogradnje in Priština © Gregor Theune

 

Abgesehen von Fragen der statischen und baulichen Sicherheit ist es vor allem der Anblick, der verstört: Was der Heimhandwerker im Baumarkt findet, dient hier nicht nur der partiellen „Verschönerung“, sondern ergibt wilde Wucherungen, die mal ulkig, mal bizarr ausfallen und in vielen Fällen dem Plattenbau-„Wirt“ einen lebendigen, chaotischen, kreativen Kopf aufsetzen. Aber der Anblick macht auch grundlegende und komplexe Probleme sichtbar: Man kann die nadogradnje sehen als Zeichen galoppierender institutioneller Korruption. Als Beweis für das Versagen staatlicher Planung. Als unzivilisiertes Unvermögen der Gesellschaft, sich an vorliegende urbane und architektonische Infrastrukturen zu halten. Oder aber als individuelle Befreiungsversuche aus der städtebaulichen Misere.

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Die Ausstellung „Nadogradnje – Urbane Selbstregulierung in post-jugoslawischen Städten“ im AIT-ArchitekturSalon Köln geht bis zum 9. September. © Gregor Theune

 

Im AIT-ArchitekturSalon Köln sind seine Arbeiten bis zum 9. September 2015 zu sehen. Gregor Theune hat zusammen mit dem Gestalter Sven Quadflieg beim Weimarer Architekturbuchverlag M BOOKS ein Buch herausgegeben: Nadogradnje – Urban Self-Regulation in Post-Yugoslav Cities. Es will Dokumentation und mit einer Reihe wissenschaftlicher Beiträge auch eine erste Interpretation des Phänomens sein.

Ira Scheibe

 

Nadogradnje – Urbane Selbstregulierung in post-jugoslawischen Städten

Ausstellung 5. Juli bis 9. September 2016, AIT-ArchitekturSalon Köln, Vogelsanger Straße 70 Öffnungszeiten: Mi + Fr 13–18 Uhr, Do 13–20 Uhr (oder nach Vereinbarung)

 

Salongespräch 25. August 2016 | 19.30 Uhr
mit Gästen aus der Region Post-Jugoslawiens, die im Rahmen ihrer Projekte Ihre Haltung zum Thema Selbstbau vermitteln

  • Matevž Čelik, Direktor MAO Museum of Architecture and Design, Ljubljana
  • Marko Dabrović, Studio 3LHD, Zagreb

Anmeldung unter koeln@ait-architektursalon.de

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© Gregor Theune