Archiv des Kölner Architekturmagazins. 2000 - 2021.

Raus aus der Apfelsinenkiste

Es wird gemütlicher, sinnlicher und weicher.

Auf der Suche nach dem Wohlfühlfaktor, der sich zwischen Bewährtem und Überraschendem befinden muss, stellen Designer und Hersteller ihre Neuheiten auf der imm cologne und den Kölner Passagen vor.

 

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Gleich zwei neue Tendenzen: Reeditionen in neuem Kleid und das auch noch in Grün, der Farbe, die man öfter in Köln sieht. Der „Panton Chair“ in der Limited Edition für dieses Jahr, verlegt bei Vitra. Foto © Stylepark

 

„Perfekt“ war früher so ein Etikett für gutes Wohnen. Glatte Oberflächen, alles aus einem Guss, die Form, die der Funktion folgt und so weiter. Inzwischen gibt es nicht mehr den einen Einrichtungsstil, Design ist heute oft mehr Storytelling, und kombiniert wird, was gefällt. Stile, Materialien und Texturen werden ebenso vermischt wie Neues mit Altem, Gekauftes mit Geerbtem, nicht zu vergessen Flohmarktfunde und Obstkisten. Wohl kaum ein Objekt, mal abgesehen von der gläsernen Servierglocke, hat einen so inflationären Einsatz von Restaurants über Bars, Modeläden und Cafés bis ins Wohnzimmer erlebt. Man könnte meinen, dass diese kleine Holz-Kiste den Anstoß gegeben hat, Sideboards und Regale kleiner, flexibler und offener zu gestalten. Pioniere gab es schon: So präsentierte Muuto 2011 das „Mini Stacked Shelf System“ und Piure war 2013 mit der „Nex Box“ in Köln am Start.

 

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Späte Premiere: „La Bibliothèque fil“ von Pierre Paulin aus dem Jahr 1972, das Ligne Roset jetzt zum ersten Mal auflegt sowie sein Stuhl „TV“. Foto © Stylepark

 

Drahtiger Buchhalter

Die Wohncollage als Zeichen unserer Zeit, in der alles erlaubt ist und das „Sowohl-als-auch“ eine gängige Attitüde. Wie drehen Designer und Hersteller den Einrichtungsstil weiter? Welche Schwerpunkte setzen sie? Mit was wollen sie überraschen? Die imm cologne und die Kölner Passagen, die viele Hersteller aus Nordeuropa für ihre Premieren nutzen, zeigte, wie wir uns in den kommenden Jahren einrichten werden. Und es gibt viele neue, interessante Mitbewohner. Ligne Roset, die mit einer Fülle an Neuheiten an den Rhein gereist waren, zeigt mit „Space“ von Patrick Pagnon und Claude Pelhaître ein flexibles Sideboard-Programm aus einzelnen Elementen, das man stellen oder hängen kann, das weniger mächtig daherkommt, in seiner Optik durchbrochen und filigran wirkt. Und das auch dank der aus den „Lücken“ herausnehmbaren Quader aus Kupfer – ein Material, was sich weiterhin großer Beliebtheit erfreut und so an einigen Ständen in Köln zu sehen war. Ein anderes offen wirkendes System ist „La Bibliothèque fil“, das der französische Möbeldesigner Pierre Paulin 1972 für sein Loft in der Rue du Faubourg Saint-Antoine designte und das auf einem unendlich addierbaren Breitenraster von 70 Zentimetern basiert. Dieses minimalistische Bücherregal, das Ligne Roset jetzt zum ersten Mal auflegt, kombiniert eine Stahldrahtstruktur mit Fachböden aus Mehrschichtholz, durch deren Einkerbungen die Vertikalstreben der Struktur geführt werden. Das ist ebenso stabil wie schlicht-elegant.

 

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Praktisch gesteckt: „Stick System“ von Jan Plechac und Henry Wielgus für Menu. Foto © Stylepark

 

Ebenfalls aus Holz und Stahl kombinieren die tschechischen Designer Jan Plechac und Henry Wielgus das „Stick System“ für Menu – nur umgekehrt wie Paulin, was Tragstruktur und Einlegeböden angeht. Das modulare Regalsystem, das leicht erweitert oder verschiedenen Raumsituationen angepasst werden kann, hat diesen improvisierten Look, der gleichermaßen pragmatisch wie sympathisch wirkt.

 

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„Modern Chic“ der Zwanziger und Dreißiger Jahre bei Gubi, von GamFratesi mit „Beetle“. Foto © Stylepark

 

Sympathie verspüren offenbar alle Möbler nach wie vor für überarbeitete Reeditionen oder wiederentdeckte Klassiker aus dem 20. Jahrhundert. Selbst Messestände erscheinen in retrospektivem Charme: So ließ sich etwa Creative Director Jacob Gubi von dem Zeitalter des Art déco inspirieren. Aufwendig gemusterte Textilien sowie samtene Oberflächen und Pflanzen vermitteln den „Modern Chic“ der Zwanziger und Dreißiger Jahre auf dem Stand von Gubi. Dazu passt die Neuauflage von Greta M. Grossmans Sofas „Modern Line“ aus dem Jahr 1949, aber auch die „Beetle“-Stühle des dänisch-italienischen Designduos GamFratesi, die nun mit neuen Rahmen aus Chrom beziehungsweise Kupfer glänzen. Zum ersten Mal in Serienproduktion gelangen Pierre Paulins Wandsekretär „Le Secrétaire Mural“ und das „Daybed“ bei Ligne Roset. Der Clou an dem kleinen Sofa ist die einerseits zur Zeit angesagte integrierte Ablage – wohlgemerkt: der Entwurf ist über 60 Jahre alt! Außerdem lässt sich das „Daybed“ zu einer großen Sitzfläche für drei bis vier Personen beziehungsweise zu einem Zusatzbett erweitern, wenn man die zwei Rückenkissen auf die Ablage legt. Die Ablage verbindet Buche mit Nussbaum und spielt dabei mit dem Kontrast zwischen hellem und dunklem Holz.

 

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Zum 15-jährigen Firmenjubiläum von e15 kommt der „Bigfoot“ Tisch als Limited Edition mit einer Illustration des Künstlers Geoff McFetridge heraus. Foto © Stylepark

 

Auf großem Fuß

Und Holz ist allgegenwärtig auf der imm cologne. Anlässlich des 15-jährigen Firmenjubiläums von e15 zeigt Philipp Mainzer eine Sonderedition des „Bigfoot“ Tisches, auf dessen Unterseite der Künstler Geoff McFetridge die Kreatur zeichnete, die dem Tisch seinen Namen gab und in den nordamerikanischen Wäldern leben soll. Mit „Bigfoot“ hatte das Massivholz Um die Jahrtausendwende seinen Auftakt erlebt und Holz in seiner puren Art wurde überhaupt erstmals salonfähig.

 

Wettstein
Schwungvoll dank CNC-Fräse: „Klio“ aus dem Studio Hannes Wettstein für Horgenglarus. Foto © Stylepark

 

Inspiration Apfelsinenkiste

Im Zuge dieser Optik, die heute durch den Anspruch an Nachhaltigkeit und Umweltfreundlichkeit einmal mehr gefragt ist, kommt nun bei den Bugholz-Klassikern von Thonet in der Edition „Pure Materials“ an Stelle von europäischer Buche heimische Esche zum Einsatz. Das ebenso feste wie elastische Holz wird bewusst nur leicht behandelt, so dass man die Strukturen der Oberfläche optisch und auch haptisch erleben kann. Ein massiver Holzstuhl aus Eiche oder Nussbaum, der mit einer angenehm flexiblen Rückenlehne überrascht, ist „Rip Chair“ von Schneiderschram. Dank einer durchdachten Rippenstruktur, bei der die Rückenelemente durch federnde Carbonstäbe miteinander verbunden sind, gibt die Rückenlehne nach und passt sich den Bewegungen des Sitzenden an. Aus massivem Eschenholz ist der „Satsuma Chair“, ebenfalls von Schneiderschram. Der Clou ist, Sitzrahmen und Beine bestehen aus Massivholz-Profilen mit dreieckigem Querschnitt. Diese Konstruktion – aufgepasst, jetzt kommt’s – ist ebenfalls inspiriert von einer Obstkiste und zwar der Apfelsinenkiste: Der Materialeinsatz kann somit um 50 Prozent reduziert werden, so dass ein Stuhl nur 3,5 Kilogramm auf die Waage bringt. Deutlich schwerer ist der „Klio“ aus dem Studio Hannes Wettstein für Horgenglarus. Die Rückenlehne Rücken, die an einen alten Schreibtischstuhl erinnert, wird auf über 100 Jahre alten Maschinen aus einem Stück mehrfach laminiertem Holz gebogen und dann mit moderner CNC-Technologie geformt. Erstaunlich für diese Art von Stuhl ist, dass er stapelbar ist.

Kristalia
Patrick Norguets „Compas“ für Kristalia hat eine Art „einklickbare“ Sitzschale und ein Gestell aus Aluminium. Foto © Stylepark

 

Mit einem interessanten Materialmix wartet der „Sedan Chair“ der chinesischen Architekten und Designer Lyndon Neri und Rossana Hu für ClassiCon auf. Das Duo aus Shanghai, das in diesem Jahr „Das Haus“ im Bereich Pure Village der imm entwarf, hebt bewusst die Sitzschale, ähnlich wie eine Husse, optisch vom Gestell ab. Dies fällt durch den Kontrast der Materialien – die Sitzschale ist aus einfarbigem Kunststoff, das Gestell aus massiver Eiche oder Nussbaum – umso deutlicher ins Auge. Auch Patrick Norguet kombiniert bei „Compas“ für Kristalia eine Art „einklickbare“ Sitzschale aus Kunststoff mit einem Gestell, das in diesem Fall aus Aluminiumguss besteht. Drei Teile, zwei Beinpaare mit der auffallenden, an einen Zirkel erinnernden Form und ein kreuzförmiges Element unter der Sitzfläche bilden die Basis für den eigentlichen Sitz, dessen neue Variante jetzt mit einem Kissen aus PUR-Schaum mit vier Schrauben befestigt wird und den Stuhl komfortabler macht.

 

Der Wunsch nach Gemütlichkeit

Geschickt zu kombinieren wissen auch die Bouroullec-Brüder. Für Magis haben sie die Tische „Officina“ entworfen, die auf einem fast schon archaisch anmutenden Gestell aus Schmiedeeisen Platten aus Stahlblech, Walnuss, Esche, Glas, Schiefer oder Marmor tragen. „Back to the basics“, könnte man denken oder sich generell noch mal mit der Frage auseinandersetzen, welche traditionellen Materialien sich eigentlich noch für das zeitgenössische Design eignen.

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Wie in alten Zügen: Inga Sempés wunderbar soft gepolsterte „Beaux Fixe“ für Ligne Roset. Foto © Stylepark

Zeitgemäß scheint es jedenfalls, dass Sofas auch wieder in Formaten daherkommen, die nicht als Liegewiese zu bezeichnen sind. Mit „Zoom In“ hat Arian Brekveld für Montis einen üppig proportionierten Entwurf geliefert, dessen Kombination von geraden und leicht geschwungenen Linien wie eine Hommage an die Fünfziger Jahre daherkommt, dessen Stoff-Mix allerdings sehr erfrischend wirkt. Und komfortables, eher aufrechtes Sitzen ist auf „Zoom In“ auch möglich – da kann man sich nun darüber streiten, für welche Zielgruppe das Sofa am besten taugt. Gepolsterte Stühle, Bänke oder Sofa-Bank-Zwitter sind wohl unserer Vorliebe geschuldet, heutzutage länger am Esstisch zu verweilen.

 

Zeitraum
Weiches Dinieren: „Morph Duo Dining“ von Formstelle für Zeitraum ist als Essbank gedacht. Foto © Stylepark

 

Zeitraum präsentiert mit „Morph Duo Dining“ von Formstelle ein so genanntes Kanapee zum Dinieren und Ligne Roset stellt Inga Sempés wunderbar soft gepolsterte „Beaux Fixe“ vor. Visuell steigen da Bilder von Sitzbänken aus alten Zügen vor dem inneren Auge auf, aber die Behaglichkeit ist selbstredend eine ganz andere.

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Der Lounge-Star aus Köln: Thonets Nummer „808“ von Claudia Kleine und Jörg Kürschner alias Formstelle aus München. Foto © Stylepark

 

Nicht fehlen darf natürlich eine Variation des Lounge-Sessels: Thonet hat ihn in Form des „808“ vorgestellt. Claudia Kleine und Jörg Kürschner, die gemeinsam das Münchner Label Formstelle bilden, haben einen modernen Ohrensessel konzipiert, der erstmal so gar nicht in die Thonet-DNA passen will: Eine drehbare und dick gepolsterte Kunststoffschale, deren Neigung sich, zieht man an einem kleinen Lederband in der Sitzfläche, stufenlos verstellen lässt. Mit der Stepp-Optik reiht sich der Sessel in die „Wunsch-nach-Gemütlichkeit“-Möbelliste ein – und dank der Option, für das Gestell nicht nur Flachstahl, sondern auch Stahlrohr und Holz mit Bugholz zu kombinieren, bleibt eine gewisse Tradition gewahrt.

 

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Ästhetisch ist „Das Haus“ von Lyndon Neri und Rossana Hu durchaus ein Genuss – allerdings sind zu viele der Objekte schon in den vergangenen drei imm-Häusern zu sehen gewesen. Foto © Stylepark

 

Wo bleibt die Kritik?

Um Traditionen geht es bei der diesjährigen Variante von „Das Haus“ im weitesten Sinne. Denn die Shanghaier Architekten Lyndon Neri und Rossana Hu von Neri & Hu Design and Research Office wollen die Besucher mit ihrer Installation „Memory Lane” aus der Komfortzone locken und zu einem Diskurs über Wohnrituale anregen. Über zwei Ebenen erstreckt sich die Metallstruktur, die Besucher über einen sehr gut duftenden Holzpfad erklimmen und durchlaufen können. Diese Art Gasse eröffnet dem darauf Gehenden verschiedene Perspektiven auf den Raum und die ausgestellten Möbel. Ästhetisch ist „Das Haus“ mit seinen verschiedenfarbigen Zimmern und dem Mix aus westlichen und östlichen Möbeln und Accessoires durchaus ein Genuss. Allerdings sind zu viele der Objekte schon in den vergangenen drei imm-Häusern zu sehen gewesen. Und wenn man sich, so ein Anliegen der Architekten, kritisch mit der Kommerzialität des Ortes auseinander setzen soll, dann wünschte man sich nicht immer die gleichen altbekannten Produkte.

 

Zwischen Bordeaux und Bernstein

Schließlich noch ein Wort zu den neuen Farben: Die Farbe des Jahres, das die amerikanische Firma Pantone jedes Jahr verlauten lässt, heißt 2015 „Marsala“. Dieses rauchige Weinrot, irgendwo zwischen Braun, Bordeaux, Bernstein und Kupfer, war andeutungsweise bei Stattmann Neue Möbel zu sehen: Den „Profile Table“ des belgischen Designers Sylvain Willenz, dessen Beine mittels Steckverbindungen in der Platte verankert und mit vier Schrauben fixiert werden, gibt es annähernd in dem Rot-Ton. Vielleicht sehen wir im Laufe des Jahres sicher mehr von dieser Nuance. Ansonsten? Viel Holz, ein bisschen Weiß, immer noch Blau – und viel Grün! Vielleicht weil man die Farbe mit Hoffnung, mit Aufbruch und Erneuerung verbindet? Jedenfalls liegt die Wurzel des Wortes „Grün“ in dem alten germanischen Wort „ghro“ und das bedeutet „wachsen“ und „gedeihen“. Das passt zum Zeitgeist, dem Wunsch nach Entschleunigung, Emotionalität und Sinnlichkeit – und sei es nur in einem weich gepolsterten Möbel.

 

Uta Abendroth

 

Ein herzlicher Dank an stylepark.com für die Bereitstellung des Textes.