Archiv des Kölner Architekturmagazins. 2000 - 2021.

Vortrag von Marc Mer

Prof. Marc Mer
Rede im Museum für Angewandte Kunst zu Köln
aus Anlass der Verleihung des 9.Kölner Architekturpreises
am 20.September 2003

Hinter den Bildern liegt der Raum

Prof. Marc Mer

Rede im Museum für Angewandte Kunst zu Köln

aus Anlass der Verleihung des 9.Kölner Architekturpreises

am 20.September 2003

Hinter den Bildern liegt der Raum

[Wo Architektur so wirklich ist, wie sie woanders nicht sein kann]

Versuch einer Darstellung

„Auf die Darstellung einer Tätigkeit im Bewusstsein derer, die sie ausüben, sei […] nicht allzu viel zu geben.“(1) Das habe ein Schriftsteller gesagt.

Sie könne auch gut für sich selber sprechen, sagt die Architektur.

Schließlich sei sie es, die darstelle, womit die, welche sie bauen, sich darstellen. Dass sie nicht darstelle, dass sie nichts darstelle, das wolle sie dennoch gleich zu Anfang feststellen. Sie sei, was und wie sie sei. Immer nur sie selbst sei sie. Das sei ihr auch mehr als genug. Darüber sei zu reden. Und auch nur darüber könne und wolle sie reden.

Robert Musil, von dem der Satz eingangs stamme, habe den freilich weniger gesagt als vielmehr geschrieben. In seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ stehe dieser Satz in einem Kapitel unter der Überschrift „Das in den Bart Lächeln der Wissenschaft“.

Sie sei eine Frau mit Eigenschaften, sagt die Architektur.

Und in den Bart der Wissenschaft wolle sie sich auch nicht lächeln lassen. Nicht, dass sie etwas gegen Wissenschaft habe. Und schon gar nicht habe sie etwas gegen das Lächeln. Es sei nur so: Am Munde der Künste komme es ihr wie von selbst über die Lippen, am Barte der Wissenschaft aber falle es ihr so unendlich schwer.

Von demselben Schriftsteller gebe es in demselben Roman noch einen zweiten Satz, der ihr ungeheuer wichtig sei, sagt die Architektur. Um Genauigkeit gehe es in dem. Was er darüber zu sagen habe, sei in gleichem Maße ungewöhnlich wie bedenkenswert: „[…] in Wirklichkeit gebe es nicht nur […] die phantastische Genauigkeit […], sondern auch eine pedantische, und diese beiden unterscheiden sich dadurch, dass sich die phantastische an die Tatsachen halte und die pedantische an Phantasiegebilde.“(2) In ebendiesem zweifachen Sinn sei die Genauigkeit zu verstehen, welche sie fortan in all dem, was sie sage, walten lassen wolle, sagt die Architektur und holt weit aus.

Wirklichkeit habe Körper, fängt sie an.

Das sei nicht weiter seltsam, vielmehr eigenartig. In der Eigenart des Wirklichen liege es, dass es mit dem Körperlichen einhergehe. Und solche Eigenart sei von der Art des Eigentums sogar. Körperlichkeit sei Wirklichkeit eigentümlich. Ihr zu eigen sei sie.

Am Körperlichen besitze das Wirkliche so etwas wie ein Eigentumsrecht. Und dieses sei exklusiv. Wirklichkeit behalte sich Körperlichkeit vor.

Stolze Besitzerin des Körperlichen sei auch sie, sagt sie.

Auch sie habe einen Körper. Hätte sie aber einen nur, wie ein Stein auch einen habe, so wäre sie noch nicht sie selbst. Einen Körper, der hohl sei, habe sie. Einen Körper, um den Raum sei, wie um alle Körper, habe sie und zugleich auch einen Körper, in dem Raum sei. Und beide Körper zusammen seien ihr ein Körper.

Nun gebe es viele, die Bilder machen von ihr, sagt sie.

Von ihrem doppelten Körper und ihren zwei Räumen, vom Raum um sie herum und vom Raum in ihr drinnen. So gelinge es ihnen, sie selbst einzufangen, behaupten sie. In ebenso vielen Bildern, wie ein Fotograf Schritte um sie herum und in sie hinein mache, gebe sie sich ihm zu sehen, behaupten sie.

Viele dieser Bilder habe sie selbst schon gesehen. Sie müsse aber sagen, sie sei in keinem. Auch wenn es scheine, als ob sie in jedem sei. Noch nicht einmal in allen Bildern zusammen sei sie.

Dennoch lasse sie die, welche immer weiter Bilder von ihr machen, gewähren. Obschon sie auch allerhand unternehme, was jene wissen lassen könne, dass es so nicht zu machen sei, ihrem Wesen auf den Grund zu kommen.

Doch es helfe einfach nichts, sagt sie.

Wobei es nicht daran liege, dass jene, was sie sage, nicht verstehen wollen. Sobald sie da sei, bemühen sich die Fotografen redlich. Mehr noch bemühen die Architekten selbst sich. Um Bilder, die sie von ihr machen, noch ehe sie da sei. Darin solle sie vorab schon zeigen, was sie später einmal haben werde.

An mangelndem Bemühen beim Bildermachen liege es also nicht. Das Missverständnis liege tiefer. Warum ihr das, was ihr zu eigen sei, in Bildern fehle, liege im Wesen des Bildes selbst.

Raum komme in Bildern überhaupt nicht vor, sagt sie.

Es sei denn für einen Betrachter, der um ihn wisse. Und selbst der lege ihn nur hinein. In Bildern sei nichts weiter als eine Illusion von Raum. Die freilich lasse sich schüren. Das mache Bilder geradezu gefährlich.

Was daher komme, dass Raum in Bildern sich verstecken lasse, sagt sie und lacht.

Deswegen entdecke auch kaum ein Betrachter in einem Bild den Raum, von dem es gemacht sei. Den er in ihm entdecke, sei immer ein anderer. Mit dem Bild von einem Raum könne er nämlich immer nur das Bild von einem vergleichen, den er schon einmal erfahren habe.

Vom Fahren aber müsse sie jedem abraten, wirft sie ein.

Sie selbst fahre nicht. Mit Fahren habe Erfahrung wenig gemein. Mit einem Fahren in geschlossenen Kabinen schon gar nichts. Ein solches Fahren enthebe aller Erfahrung. Es hebe nicht nur vom Boden ab. Von dem, das es durchfahre, sondere es sich auch zur Seite hin ab. Derart überheblich und absonderlich sei es, dass es nichts erfahren lasse.

Und doch werfe es von dem, das es umgebe, auf durchsichtige Scheiben Bilder, sagen Fahrer.

Bilder, die daraus ein Geheimnis machen, entgegnet sie. Was ein Bild wie ein Geheimnis hüte, das sei aber nicht Raum. Das sei vielmehr das Geheimnis, das es um ihn mache, selbst. Und dieses Geheimnis sei, dass es keines habe.

Der, den es angeblich verstecke, halte sich in ihm gar nicht auf. Der sei ihm schon von Anfang an verloren gegangen. Kein Raum liege im Bild. Weder für kurz, noch für lange.

Aber Bilder seien doch wirklich? fragen welche.

Das stimme schon, sagt sie. Bilder seien wirklich. An der Wirklichkeit der Bilder lasse sich nicht rütteln. Doch habe die auch nie in Frage gestanden. Stattdessen gelte es, eine ganz andere Frage zu stellen: Wie es um die Wirklichkeit dessen stehe, das in Bildern sich zeige?

Die Antwort darauf, so sagt sie, sei so einfach wie eindeutig. Wirklichkeit, das sei, was drumherum stehe. Das heiße mit anderen Worten: Jedes Bild sei wirklich; unwirklich aber sei, was jedes Bild zeige.

Bilder machen Schwierigkeiten, sagt sie.

Sagt es, als sei es das Selbstverständlichste überhaupt. Im Umgang mit der Wirklichkeit machen Bilder Schwierigkeiten. Dafür wolle sie gerne ein Beispiel geben. Von Georg Eisner, einem Schweizer Augenarzt, habe sie es:

„Zwei Patienten versuchen die Flucht aus der psychiatrischen Anstalt. Schon sei es ihnen gelungen, vor das Portal zu gelangen. Da meine der eine: ,Du, es ist besser, wir gehen zurück.’“ Darauf „sage sein Partner: ,Warum? Wir haben es doch schon beinahe geschafft. Wir müssen nur noch durch diese Allee, dann winkt die Freiheit!‘ Worauf der erste“ antworte: „,Ja, aber schau, da vorne stehen die Bäume so eng beieinander – da zwischendurch kommen wir niemals…‘

Gewiss, solche Naivität möge man belächeln, aber eigentlich“ müsse „uns die Geschichte nachdenklich machen: Woher wissen wir denn, dass der pessimistische Patient Unrecht habe? Unsere Augen sehen die Bäume am Ende der Allee tatsächlich dicht beieinander stehen. Woher wisse also unser Ich, dass dem nicht so sei?“ (3)

Hinter den Bildern liege der Raum, sagt sie.

Da liege die Wirklichkeit auch. Wo Raum sei, da sei Wirklichkeit zugleich. Wirklichkeit liege im Raum. Wirklichkeit liege nicht in der Luft. Wie sie das meine, darauf werde sie genauer noch kommen. Mit dem Raum jedenfalls fange Wirklichkeit an. Durch den Raum komme die Zeit hinzu.

Aber Raum sei doch gar nicht körperlich! entrüsten sich welche.

Und Zeit doch auch nicht! Zwar sei Raum selbst nicht körperlich, sagt sie darauf. Ohne Raum aber sei auch kein Körper. Den Raum um und zwischen Körpern gebe es deretwegen nur.

Um und zwischen diesen liege die Zeit. Im Durchmessen des Raumes liege sie. Im Durchmessen des Raumes von Körper zu Körper.

Dem Raum hinters Bild zu kommen, brauche Zeit, sagt sie.

Das habe damit zu tun, dass im Raum dahinter weit zu gehen sei. Im offenen wie im verbauten. Im verbauten sogar weiter noch als im unverbauten.

Während es vor ein Bild hin immer nur ein Schritt sei. Der schnell getan sei. Schneller als ein zweiter, der es durchschreite. Dann erst, dahinter, gebe es die vielen Schritte zu tun.

Dem, der gehe, vergehe Zeit, sagt sie.

Das Vergehen sei mit dem Gehen. Dem, der gehe, vergehe das Gehen aber nicht. Deswegen nicht, weil das Gehen erschließe. Weil es ihm den Raum erschließe.

Hinter den Bildern liege nicht nur der Raum, sagt sie.

Auch alles, das in ihm sei, liege. Wie es überhaupt ums Liegen gehe. Ein Haus beispielsweise. Das liege. Ob an einer Straße oder um einen Platz. Ob an einem See oder Fluss. Am Waldrand und am Stadtrand auch.

Selbst da aber, wo eines einsam liege, im Wald, in der Wüste, auf der grünen Wiese, liege es zusammen. Mit anderen zwar, mit Bäumen, mit Steinen, mit Sand, mit Grashalmen, doch immerhin.

Am liebsten freilich liege es in Gesellschaft mit seinesgleichen. So liege es denn auch zumeist. Zu mehreren und gerne auch zuhauf. Wie in der Stadt. Da liege es nicht nur nebeneinander. Da liege es auch übereinander.

Monogam veranlagt sei es eben nur bedingt. Das Polygame, wenn es sich denn biete, liege ihm durchaus. Wirklichkeit, schwärmt sie, das sei ein Gelage. Das sei, wo sich eins zum anderen lege.

Man müsse schon etwas vom Liegen verstehen, um etwas von ihr zu verstehen, sagt sie.

Wer nur etwas vom Stehen verstehe, der habe gar nichts von ihr verstanden. Stehen sei überall. Etwas zum Stehen zu bringen, das sei einfach. Das brauche nichts weiter als ein Loch im Boden.

Liegen aber, das sei etwas Besonderes. Um etwas zum Liegen zu bringen, dafür brauche es schon etwas mehr. Was liegt, das habe eine Lage. Das liege wo. Das habe eine Umgebung. Das sei gelegen. „[…] die Lage sei ein Teil der Form.“(4) Das habe Ludwig Wittgenstein gesagt, unter allen Philosophen, die ihr begegneten, der einzige, von dem sie wisse, dass der auch selbst ein Haus zum Liegen brachte.

Warum aber Häuser nicht nur liegen, sondern zugleich auch stehen? fragen einige.

Das sei doch ziemlich merkwürdig. Das gebe sie gerne zu, sagt sie. Wiewohl sie bemerken müsse, dass von solcher Merkwürdigkeit die meisten wenig merken. Als scheine es ihnen irgendwie selbstverständlich. Doch werde sie den Verdacht nicht los, dass gerade diese wohl am wenigsten verstünden, warum das so sei. Sie werde es an anderer Stelle noch zur Sprache bringen.

Wie es mit dem Liegen der Häuser weiter gehe, müsse sie zuvor noch sagen.

Für alles Folgende nämlich sei das entscheidend. Gelegen wollen sie sein, sagt sie. Doch das sei noch nicht alles. Gelegen seien sie, um gelegen zu kommen. Häuser seien nicht nur gelegen. Sie seien auch Gelegenheiten. Jedes Haus sei die Gelegenheit, es zu begehen. Um es herum und in es hinein.

Sie habe gesagt, alles Liegen sei ein Zusammenliegen, unterbrechen sie da welche.

Wo dieses selbst denn dann liege? wollen sie wissen. Wo es in seiner Gesamtheit gelegen sei? Wo eine ganze Stadt denn liege? Worauf sie spitzfindig meint: „Die Stadt liege am Fuße jedes ihrer Bewohner.“ (5) Das habe Karl Kraus einmal gesagt. Über Wien.

Gelegenheit wende sich überhaupt an den Fuß, sagt sie.

Doch nur eine, die entgegenstehe. Worauf sie später noch kommen werde.

Was gelegen sei, das bedeute Gelegenheit, betont sie noch einmal.

Auch das, was nicht gelegen komme, bedeute eine. Wirklichkeit komme immer gelegen. Nie jedoch bedeute sie irgendeine Gelegenheit.

Weswegen sie denen, die etwas mit ihr vorhaben, was da nicht hingehöre, zuweilen auch alles andere denn gelegen komme. Wirklichkeit komme dann auch schon einmal zum Erliegen.

Wirklichkeit gründe, sagt sie, jetzt ganz unerwartet.

Vom Grund zu sprechen, habe sie bisher ganz versäumt. Wirklichkeit da sei eine andere als Wirklichkeit dort. Weil sie da einen anderen Grund habe als dort. Auch sie habe da einen jeweils ganz anderen Grund als dort. Überall sei sie eine von Grund auf andere.

Ihre Wirklichkeit gründe zweifach, sagt sie.

Es habe einen Grund, warum sie entstehe. Und sie habe einen Grund, auf dem sie stehe. Das sei der Grund, dem sie entstehe. Der Boden sei das nicht. Das sei vielmehr das Loch im Boden. Sie entstehe dem Loch. Der Grund für sie liege im Loch.

In mancher Stadt gebe es sogar Löcher, die sich wohl öffnen, aber nicht mehr schließen lassen, sagt sie.

Ob es nur am Geld liege, wisse sie nicht. Dass Geld ein denkbar schlechter Grund für ein Loch sei, wisse sie aber genau.

Ob es für ein Loch, das sich nicht mehr schließen lasse, überhaupt noch einen Grund gebe? frage sie sich dabei immer. Und meine einen, der nicht ein Loch woanders sei. Etwa eine Planung, die fehle. Eine, die es entweder nie gegeben habe.

Oder eine, die zur Unzeit abhanden gekommen sei. Das müsse nicht unbedingt eine architektonische, das könne eine politische vielleicht schon eher gewesen sein.

Der Grund sei Teil ihrer Lage, sagt sie.

Das Liegen verbinde sich mit dem Grund. Nichts liege ohne Grund. Sonst liege es nicht. Was nicht liege, das schwebe. Das löse sich vom Grund. Das treibe umher. Das lasse sich treiben und sogar vertreiben.

Das kenne sie aus früheren Tagen von sich selbst. Als Arche sei sie einst von ihrem Grund hochgehoben worden, um woanders, viel später und viel höher, auf Grund zu laufen. Aus Arche, die schwamm, sei sie Arx geworden, die festsaß. Aber das sei alles schon ziemlich lange her. Sie erzähle es auch nur des Unterschiedes wegen, den es mache, Schiff oder Burg auf der Spitze eines Berges zu sein.

Nicht nur darum allein, wie die Dinge zueinander liegen, gehe es, fügt sie hinzu.

Darum, dass, was liege, auch liegen bleibe, gehe es auch. Was liege, das dürfe sich nicht verschieben. Sonst sei seine Lage beliebig.

Insofern stehe sie eben doch auch, sagt sie.

Nur aber eine, die wie sie liege, stehe. Eine, die liege und dabei genug wiege. Die nämlich drücke sich ein. Eine wie sie, die bleibe lange.

Lage und Gewicht ergebe zusammen Gegenstand, sagt sie.

Was so liege, dass es sich eindrücke, stehe entgegen. Das drücke sich nicht nur in den Grund. Das drücke sich auch in den Bestand rundum. Um entgegenzustehen, brauche sie nicht nur etwas unter sich. Es müsse auch etwas um sie sein. Erst dann widerstehe sie. Erst dann leiste sie Widerstand. Denn, was Widerstand leiste, das unterstütze sich. Gegenständlichkeit beruhe auf Gegenseitigkeit.

Im übrigen bestehe sie darauf, dass es nicht nur eine Gegenständlichkeit nach außen gebe. Zumal es für sie auch eine nach innen gebe.

Widerstehen, das erkenne neben seiner räumlichen, seiner zeitlichen und seiner politischen Dimension vor allem seine poetische als die, welche seinem Wesen am nächsten stehe: Das Entgegenstehen führe der Gegenstand in seinem Namen.

Kultur sei der Umgang mit dem Entgegenstehen, sagt sie.

Wie der genau aussehe, das habe ihr seinerzeit Vilém Flusser, ein tschechisch-brasilianischer Philosoph, verraten, den sie stets damit beschäftigt fand, dem Kommunizieren hinter die Schliche zu kommen. Der habe, was Umgang sei, an sich selbst verdeutlicht:

„Er stoße auf seinem Weg gegen Hindernisse (gegen die gegenständliche, objektive, problematische Welt), er stülpe einige dieser Hindernisse um (verwandele sie in Gebrauchsgegenstände, in Kultur), um fortzuschreiten, und diese derart umgekehrten Gegenstände erweisen sich selbst als hindernd. Je weiter er fortschreite, desto mehr sei er von Gebrauchsgegenständen behindert (mehr von Autos und Verwaltungsapparaten als von Hagel und Tigern).“(6)

Da sei ihr einiges klar geworden, sagt sie.

Im Umgang stecke das Gehen. Es deute nicht nur auf den Umgang. Es sei einer. Wirklichkeit sei eine Frage der Umgänglichkeit. Eine Frage der Anpassung sei das nur zum Teil. Dass die, welche sie machen, die sich nach ihr Architekten nennen, umgänglich seien, sei nicht erforderlich. Dass dieselben für eine Stadt, ihre Bewohner und Politiker unumgänglich seien, schon. Unumgänglich derart, dass es diesen nicht gelingen dürfe, jene zu umgehen.

Umgang und Eindruck, das sei beides eine körperliche Angelegenheit, sagt sie.

Mit einer Sache umzugehen, meine nicht, dieselbe zu umgehen. Mit einer Sache umzugehen, bedeute, um sie herum zu gehen. Doch diene das dazu, sich von ihr beeindrucken zu lassen und dabei sich auch selbst in sie hineinzudrücken. Bilder beeindrucken nicht. Bilder haben keinen Körper.

Sie habe einen doppelten, wie sie schon gesagt habe.

Worauf sie nun noch einmal zurückkomme. Um etwas, das geschlossen ist, lasse sich nur herumgehen. In etwas, das geschlossen ist, lasse sich nur umhergehen. Herumgehen bleibe so draußen, Umhergehen drinnen.

Einen Umgang mit ihr aber gebe es von draußen und von drinnen. Im Umgang mit einer Sache, die hohl sei, so wie sie, gehe es um Zugang. Ihre volle Umgänglichkeit stelle sich mit ihrer Zugänglichkeit her. Zugänglich müsse sie sein. Sonst verfehle sie ihr Wesen.

Zugänglich sein könne sie jedoch nur, weil sie auch widerstehe, sagt sie.

Ob aber auch ein Loch Widerstand leiste? Und welchen? Das frage sie sich oft. Sie könne keinen erkennen. Stattdessen sei, wie der Boden dem Loch Widerstand leiste, für sie unübersehbar. Und selbst, wenn es in ihn schon gerissen sei, leiste der noch Widerstand. Während es sich willig füllen lasse. Von was und wem auch immer. Als gehe es um nichts sonst als um Vertreibung eines vermeintlichen Nichts aus ihm.

Wofür es selbst denn auch gar nichts zu tun brauche. Das Schließen falle dem Loch gleichsam in den Schoß. Alles falle wie von selbst in es hinein. Und alles, was fällt, das fülle es, das fülle es auf. Allerdings deswegen nur, weil auch das Loch einen Boden habe.

Raum habe einen Boden, sagt sie.

Das werde leicht übersehen. Sie habe auch einen. Einen habe sie zumindest. Zumeist sei es mehr als einer. Doch der Boden, den sie habe, sei nicht der Boden des Raumes. Sie stelle sich ihren eigenen Boden her. Den Boden des Raumes vervielfältige sie. Den Boden eines Hauses mache sie daraus wie auch den Boden einer ganzen Stadt.

Bodenständig sei sie.

Und jedesmal, wenn sie so etwas sage, müsse sie darüber lachen. Grundanständig sei sie auch. Und doch gehe sie grundanständig nur zuunterst vor. Darüber mache sie sich so viele Böden, wie sie Lust darauf habe. Bis weit hinauf in einen Raum, wo der längst schon keinen mehr habe.

Mit jedem Boden, den sie herstelle, zeige sie einmal mehr, wie sehr das Liegen in ihr stecke, sagt sie dann.

Das Liegen komme immer zuerst. Alles andere komme danach. Boden liege nun einmal. Kein Boden stehe. Manchmal schwebe wohl einer. Das sei dann aber schon ein oberer. Ganz oben lasse sie sogar welche fliegen. Wenngleich sie ihnen verbiete, sich von der Stelle zu rühren. Von seiner Lage her sorge sie aber bei jedem dafür, dass er liege, dass er über dem untersten liege. Der niemals schwebe. Der immer liege. Der immer aufliege.

Und wo der Boden des Raumes nicht eben liege? fragen nun einige.

Was mache sie da? Das störe sie nicht, antwortet sie. Sie müsse durchaus nicht eben liegen. Auf unebenem Grund liege sie gerade ebenso gut. Einen unebenen Grund, den sie vorfinde, gleiche sie aus. Was viele ihr nachsagen, das sei nicht ganz falsch: sie ebne ein.

Allen Boden aber, den sie mache, hänge sie zusammen, sagt sie.

So lege sie auch jeden Boden, den sie in die Höhe lege, in die Weite. So liege sie weiter noch als bis in alle Ferne. Das sei die eigentliche Gelegenheit, welche sie mit dem Boden, den sie auslege, biete.

Der Boden, den sie auslege, sei immer auch ein Sockel, sagt sie mit einem Lächeln, das alles sagt.

Ein über den Boden des Raumes erhobener sei er. Voll solcher Sockel sei die ganze Stadt. Die Straßen und Plätze: alles sei ein Sockel. Ein einziger, jedoch kein einzelner.

Dass sie allen Boden zusammenhänge, habe sie schon gesagt. Der Boden der Stadt sei dabei ihr wichtigster. Selbst hänge der zusammen und hänge auch die, welche auf ihm stehen und auf ihm unterwegs seien, zusammen.

Den Boden einer Stadt lege sie nicht aus, um die Häuser ihrer Bewohner darauf zu stellen. Die sie in Wirklichkeit in ihm versenke. Den Boden einer Stadt lege sie ihren Bewohnern aus, um darauf herumzugehen.

Hinter den Bildern liege der Raum, sagt sie noch einmal.

Es sei gut so, dass er da liege. Womit sie meine, dass er vor ihnen liege. Der Raum, der vor ihnen liege, lüge nicht. Es sei das Bild von ihm, welches lüge. Das sie über ihn, der hinter ihnen liege, belüge. Manchmal besser, manchmal schlechter. Die Wahrheit über ihn sage es ihnen nie.

Der Raum hinter einem Bild liege vor ihnen. Der Raum vor einem Bild liege hinter ihnen. Wer sich umdrehe, stelle jedoch fest, dass auch da der Raum hinter dem Bild liege. Wer sich umdrehe, stehe nun auch da vor einem Bild dessen, das er doch gerade durchgangen habe.

Allerdings stehe er nun vor einem, das ihm diesen aus entgegengesetzter Richtung zeige. Über den Raum aber, der gerade noch hinter ihm lag und jetzt ein weiteres Mal vor ihm liege, wenngleich anders herum, vermag es ihn auch so nicht mehr zu belügen.

Das Wesentliche am Raum, der vor ihnen liege, sei, dass er einen Boden habe, sagt sie.

Was vor ihnen liege, sei weniger Raum als vielmehr Boden. Der sei es eigentlich, der ihnen zu Füßen liege. Der ihnen jeden Raum überhaupt erst begehbar mache.

Ihr Sehen richte sich ganz nach ihren Füßen, sagt sie.

Boden vor ihren Füßen zu sehen, das sei für sie alle entscheidend. Weiterhin Boden unter die Füße zu bekommen, bedeute ihnen das. Da sei der Boden hinter ihnen längst aus dem Sinn. Solange es vor ihnen nur immer weiter gehe. Nach dem, der hinter ihnen noch immer liege, stehe ihnen erst wieder der Sinn, wenn es vor ihnen nicht mehr weiter gehe. Spätestens dann stelle sich im Umdrehen des Körpers der Sinn des Bodens hinter ihnen mit einem Mal wieder von vorne her. Da vor ihnen liege für alle Fälle eben doch noch einer.

Der Boden, auf den sie tagtäglich alle stelle, sei kein gewöhnlicher Sockel, sagt sie und grinst.

Schließlich stelle sie alle, die sie darauf stelle, in ein Loch. Jeder Platz, jede Straße sei doch eines. Ein Sockel des Loches sei sie eigentlich, sagt sie amüsiert.

Ein Loch aber, das stehe weder, noch liege es auf einem Sockel. Ein Loch auf einem Sockel, das öffne ihn. Da nichts auf ihr stehe, sei über ihr nur noch eins: der Himmel. Wenn sie sich nach oben öffne, falle der ihr in den Hof.

Dem Himmel mache sie den Hof, lacht sie. Eine Anziehende des Himmels sei sie. Eine, die ihn zu sich herunter ziehe, die ihn in sich hinein ziehe. Alle schauen nach oben.

Es gehe um den Sinn der Wirklichkeit, sagt sie und holt damit ihre Blicke zurück.

Der Sinn der Wirklichkeit sei die Sinnlichkeit. Wovon sie geraume Zeit schon rede. Eine Wirklichkeit, die nicht sinnlich sei, mache keinen Sinn. Eine Wirklichkeit, die nicht sinnlich sei, gebe es auch gar nicht. Was das denn nun wieder bedeute? fragt einer.

Dass alles, was sei, dadurch sei, dass es in die Hand zu nehmen sei oder unter den Fuss, sagt sie bereitwillig.

Wirklichkeit werde begriffen und ergangen. Bedeutung hänge davon ab, wie es ihnen allen mit dem, was es zu begreifen gebe, ergehe. Ob es ihnen überhaupt damit ergehe. Oder ob es ihnen entgehe.

Was sich nicht begreifen lasse, ob mit Händen oder Füßen, das entziehe sich ihnen. Das Abstrakte sei so etwas, sagt sie. Es sei buchstäblich das Weggezogene. (7) Abstrakt sei, was sich ihrem Zugriff entzogen habe. Abstrakt sei, was ihnen keinen Zutritt gestatte.

Sie sei nicht abstrakt, unterstreicht sie.

Auch abstrahieren lasse sie sich nicht. Oder lasse sie sich etwa wegziehen? Oder ziehe sie sich gar selbst weg? Stattdessen ziehe sie alle um sich herum und in sich hinein. Eine ihrer Lieblingsformen sei die des Labyrinths. Als solches stehe sie beispielhaft dafür. Nichts in diesem entziehe sich ihnen. Vielmehr ziehe es einen jeden immer tiefer in sich hinein. Sie alle, die sich ihm entziehen wollen. Die es alle in Richtung Ausgang ziehe, den sie nicht finden.

Raum sei leibhaftig, sagt sie.

Raum sei einer der Leiber. Die entweder da seien oder nicht da seien. Davon erzähle sie. Davon erzähle sie als Labyrinth ganz besonders. Von den Leibern, die ihr nicht entkommen. Von denen, die ihr dennoch entkommen, auch.

Die ihr hinauf entkommen, hinauf in einen Raum, den sie nicht kontrolliere. Weil sie ohne Dach sei. So habe sie auch einst zur Erfindung des Fliegens beigetragen. Erster Schauplatz des Fliegens sei sie gewesen.

Wenn sie manchmal auch selbst auf und davon fliege, so entziehe sie sich dennoch nicht für immer, sagt sie.

Zwar komme sie nicht zurück. Doch komme sie später mit ihnen zusammen. Da, wo sie sei, ohne noch zu sein, warte sie darauf, zu ihnen hingezogen zu werden. So verhalte es sich, wenn sie in der Form eines Projektes stecke. Das sei ihre früheste Form, zuweilen auch ihre radikalste.

Projekte seien Löcher. Als solche aber seien sie höchst konkret. Projekte seien keine Abstrakta. Genauso konkret wie Leiber seien sie. Projekte seien Löcher, die einen Leib haben. Durch den lasse sich hinausschauen auf ihre Verwirklichung.

Als Loch aber müsse ein Projekt der jetzigen Wirklichkeit voraus sein, um für eine Wirklichkeit danach gerüstet sein zu können. Als Loch ohne prophetischen Charakter sei sie bedeutungslos. Wirklichkeit, aus der heraus eines schaue, sei ohnehin stets mehr als genug in ihm. Schließlich gründe Zukunft immer in der Voraussetzung von Vergangenheit und Gegenwart.

Raum sei leibhaftig, sagt sie noch einmal.

Davon, wie der Raum am Leib hafte, erzähle sie. Wie der an ihrem eigenen Leib hafte, aber auch am Leib dessen, der in ihr sei. Der den Raum, der an ihm hafte, mit sich ziehe. Der ihn durch den Raum, den sie ihm gebe, hin und her ziehe.

Dass Raum nicht nur einer des Leibes sei, dass Raum vielmehr auch selbst einen Leib habe, wolle sie damit sagen. Er habe sogar zwei Leiber. Den Leib dessen, das ihn umfasse. Und den Leib dessen, das er umfasse.

Ihre Wirklichkeit sei der Leib des Raumes, betont sie.

Ihr eigener aber sei das gar nicht so sehr. Die Leiber derer, die in ihr seien, um die herum sie sei, seien das vielmehr. Ihre Wirklichkeit werde bestimmt von ihren Leibern, sagt sie zu denen, die sie umstehen, von draußen wie von drinnen. Nach der Form ihrer Leiber, wozu auch deren Bedürfnisse gehören, forme sie ihren eigenen Leib. Der Leib des Raumes sei sie, in dem des Raumes anderer Leib unterwegs sei.

Ihr Leib und ihre Leiber seien verschieden, sagt sie.

Und die Kommunikation zwischen verschiedenen Leibern verlaufe nicht immer ohne Komplikationen. So habe einmal der Leib einer Frau den Bau des Leibes einer ganzen Stadt verursacht, ohne dass ihre Erbauer dieser je begegnet seien. Italo Calvino, ein italienischer Schriftsteller und Magier vor allem, der imstande gewesen sei, vieles von dem, das sonst unsichtbar sich ereigne, zur Erscheinung zu bringen, habe ihr davon berichtet. Was er damals derart habe geschehen sehen, das wolle sie jedoch wiedergeben, als könne es so jederzeit noch einmal geschehen. Sie habe sogar den dringenden Verdacht, dass es ebenso des öfteren geschehe:

„Männer verschiedener Nationen haben einen gleichen Traum, sie sehen eine Frau nachts durch eine unbekannte Stadt laufen, sie sehen sie von hinten mit langem Haar, und sie sei nackt. Sie verfolgen sie im Traum. Beim Hin und Her verliere sie ein jeder. Nach dem Traum begeben sie sich auf die Suche nach jener Stadt; sie finden sie nicht, doch finden sie einander; und sie beschließen, eine Stadt wie im Traum zu bauen. Bei der Anlage der Straßen baue jeder den Verlauf seiner Verfolgung nach; an der Stelle, wo er die Fliehende aus den Augen verloren habe, setze er Räume und Mauern anders als im Traum, damit sie ihm nicht mehr davonlaufen könne.

[…]

Keiner von ihnen, weder träumend noch wachend, sehe die Frau jemals wieder. Die Straßen der Stadt seien die, auf denen sie tagtäglich zur Arbeit gehen, ohne noch irgendeine Beziehung zu der geträumten Verfolgung.“(8)

Im Grunde stecke der Leib der Frau in ihr, sagt sie.

Des Raumes wegen, den sie in sich habe. Womit sie sowohl die Frau wie auch sich selbst meine. Im Grunde stecke der Leib einer Frau in ihr, die nicht da sei.

Eigentlich habe sie es verschweigen wollen, nun müsse sie es aber doch sagen: Ebendieses Raumes wegen, den sie in sich habe, sei sie durchaus gefährlich.

Sie strebe danach zu umfassen, sagt sie.

Das sei in gewisser Weise auch ihr Fluch. Das Umfassen liege ihr tief im Wesen. Umfassung sei sie aus Leidenschaft. Ebendiese jedoch gelte es in ihr zu zügeln.

Darauf los zu bauen, das sei einfach. Viel schwieriger, als zu bauen wissen, sei es, an der richtigen Stelle und im richtigen Moment nicht zu bauen wissen. Wo und wenn einer, der sie baue, nämlich merke, wie sie mehr und mehr umfasse, wie sie auch schon fülle. Wenn der Trieb zu umfassen übertreibe, sei der Raum verloren, weil die Leiber verloren seien.

Das Offene sei wichtig, sagt sie.

Sie wisse es wohl. Es sei vielleicht sogar das Wichtigste überhaupt. Sie habe einmal gehört, wie wichtig ein Dichter das Offene nehme. Obschon der doch verdichte. Und dann habe sie von einem gehört, der habe es von allen am wichtigsten genommen. Christian Morgenstern sei sein Name gewesen.

Der nahm es nicht. Der nahm es nicht heraus. Einmal aber habe der in einem seiner Gedichte, es herauszunehmen oder nicht herauszunehmen, einem Anderen überlassen: einem Architekten.

Der wiederum es nur zu sehen brauchte. Womit es schon um es geschehen war. Der nämlich habe ein ganz anderes Verhältnis zum Offenen gehabt als der Dichter. Was dieser geschlossen sah, das öffnete er. Was jener aber offen sah, das schloss er.

Ein Philosoph wiederum, Hannes Böhringer, habe ihr, was so geschehen sei, in einem Satz erklärt: „Die Lücke sehen heiße sie schon geschlossen haben.“ (9)

Wenn nun aber einer von ihnen vor sich ein Loch im Boden schließe, indem er es sehe, werde er dennoch in es fallen. Sofern er es sich einfallen lassen wolle, es zu begehen. Ob einer tatsächlich falle oder nicht, das bestimme eben keine Betrachtung, das bestimme für jeden einzelnen Fall einzig eine Begehung.

Wer ein Loch sehe, der schließe es. Wer ein Loch begehe, der befalle es. Das sei doch ein ziemlicher Unterschied, sagt sie.

Anders als sonst seien Löcher in ihr dazu da, begangen zu werden. Anders als sonst seien diese nicht dazu da, befallen zu werden. Ein Loch zu schließen, darum gehe es ihr gerade nicht. Um es aber nicht doch zu tun, müsse sie immer auch sich selbst widerstehen, das gebe sie gerne zu.

Wer nur betrachte, der schließe, sagt sie.

Der schließe selbst Löcher, wo keine seien. Um schließlich trotzdem in die Löcher zu fallen. Wer dagegen gehe, der öffne. Weil das Gehen ihm etwas eröffne. Und seien es auch lauter Löcher. Der begreife erst, was er nicht schließen dürfe, indem er es begehe, indem er es sich ergehe.

Das Gehen eröffne Löcher und halte sie auch offen. Auch für sich selbst brauche es welche. Eines zumindest, welches das Gehen ermögliche. Und eines zumindest noch, durch welches es in dieses gelange.

Sie, die umfasse, sei ohne Löcher leer, sagt sie.

Umfassend und leer sei sie so. Umfassend oder leer sei sie nie. Weil sie umfasse, sei sie leer. Leere gebe es ohne Umfassung nicht. Umfassung ohne Leere dagegen schon. Auch die Fülle habe eine.

Leere sichtbar zu machen, bedürfe der Umfassung. Fülle sichtbar zu machen, bedürfe ihrer ebenfalls. Leiber sichtbar zu machen, bedürfe der Löcher.

Vor einiger Zeit habe ein Architekt in einer anderen Stadt eine große Umfassung der Leere gebaut, die ihm ein Museumsdirektor hinterher füllte, werfen welche ein.

Und schon sei es darum gegangen, ob es nicht etwa notwendig gewesen wäre, diese Leere auch weitgehend leer zu lassen. Gezeigt werden solle da doch ein Fehlen. Das Fehlen von etwas, das früher einmal da gewesen sei. Wie aber solle man sich ein solches Fehlen durch Gegenwart von Fülle vorstellen? fragten sich viele.

Leere könne durchaus voll von Dingen sein, antwortet sie, und bleibe Leere dennoch.

Solange Leere ohne Leiber sei, könne sie noch so voller Dinge sein. Leere sei, wenn die Leiber fehlen. Wenn die Leiber derer fehlen, denen die Dinge zu eigen gewesen. Deshalb sei die Leere in dieser Umfassung, von der sie sprechen, noch immer.

Leere ohne Leiber sei ohne Leben. Es sei den Dingen nicht möglich, für sich allein zu leben. Aber ein einziger, der Umgang mit ihnen habe, belebe sie schon.

Wer Leere sichtbar machen wolle, der umfasse, wer aber Leiber sichtbar machen wolle, der lasse Löcher, sagt sie.

Leiblichkeit brauche Löcher. Leiblichkeit mache Löcher. Eine Umfassung des Leibes komme ohne Löcher gar nicht aus. Wolle sie nicht, was zu umfassen sei, verlieren. Es sei die Leiblichkeit selbst, die der Umfassung Löcher vorschreibe.

Ein Philosoph könne das leicht am Beispiel eines anderen Philosophen anschaulich machen. Hannes Böhringer habe es ihr so beschrieben:

„Das Fass sei rund und in sich geschlossen. Diogenes ruhe in sich. Doch seine Selbstgenügsamkeit habe natürliche Grenzen: Hunger, Durst, Geschlechtstrieb. Das Fass sei nur fast dicht. Aber Diogenes brauche auch nur wenig, um die Löcher zu stopfen. Er beschränke sich auf ein Minimum. Er wisse, was er brauche.“ (10)

Was er nicht brauche, das seien Bilder, sagt sie.

Bilder von Löchern, die könne er schon gar nicht gebrauchen. Der Schriftsteller Botho Strauß habe einmal gesagt: „Wo ein Bild sei, habe die Wirklichkeit ein Loch.“ (11)

Das sei kein Satz eines Philosophen, sagt sie. Es sei der Satz eines Dramatikers. Der klinge. Dramatisch klinge der aber auch nur. Was er sage dagegen, sei alles andere als dramatisch. Vielleicht aber verhalte es sich genauso mit ihm: Mehr Dramatik enthalte er deswegen nicht, weil Bildern davon mehr nicht zustehe.

Die Wirklichkeit sei überall und jederzeit dramatischer als alle Bilder zusammen, sagt sie.

Kein Bild reiße je ein Loch in die Wirklichkeit. Sie könne das. Löcher wisse sie wohl zu reißen. Sie sei aber auch kein Bild. Und dem, der sie zu einem mache, wolle sie es schon zerreißen. Als Wirklichkeit reiße sie ein Loch in alle Bilder.

*

© 2003 Marc Mer, Münster [VG Wort, München]

Alle Rechte vorbehalten

In den zitierten Textstellen kursiv gesetzte Verben verweisen auf eine vom Autor vorgenommene Veränderung vom originalen Indikativ hin zum Konjunktiv, um das dem Gesamttext zugrunde liegende Prinzip der indirekten Rede aufrecht zu erhalten.

1 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, herausgegeben von Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978, Band 1, S.301.

2 Ebenda, S.247.

3 Georg Eisner: Wege zwischen Auge und Ich. Zur Physiologie des Blicks, in Gerhard Johann Lischka: Der entfesselte Blick, Bern 1993, S.49. Symposion und Workshops im Kunstmuseum Bern 1992.

4 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Bemerkungen, Band 2 der Werkausgabe, aus dem Nachlass herausgegeben von Rush Rhees, Frankfurt am Main 1984, S.21.

5 Karl Kraus: Aphorismen, Band 8 seiner Schriften, herausgegeben von Christian Wagenknecht, Frankfurt am Main 1986, S.265.

6 Vilém Flusser: Vom Stand der Dinge. Eine kleine Philosophie des Design, herausgegeben von Fabian Wurm, Göttingen 1993, S.40. Kursiv Gesetztes verweist neben der vom Autor vorgenommenen Umstellung vom originalen Indikativ auf den Konjunktiv beim Verb auch auf eine solche von der originalen ersten Person auf die dritte beim Pronomen.

7 Vergleiche hierzu Erhart Kästner: Aufstand der Dinge. Byzantinische Aufzeichnungen, Frankfurt am Main 1993, S.159 und S.179.

8 Italo Calvino: Die unsichtbaren Städte, München 1985, S.53/54. Italienische Originalausgabe: Le città invisibili, Turin 1972.

9 Hannes Böhringer: Orgel und Container, Berlin 1993, S.28.

10 Ebenda, S.7.

11 Botho Strauß. Hier zitiert nach Horst Gerhard Haberl in Sinneswerkzeug. Kunst als Instrument, Katalog zur Ausstellung des Steirischen Herbstes, Graz 1991, S.7.

1 Kommentar