Archiv des Kölner Architekturmagazins. 2000 - 2021.

Nachkriegsarchitektur, heute

Zum Buch „Auf den zweiten Blick“ von Sonja Hnilica, Markus Jager und Wolfgang Sonne

Die Architektur der Nachkriegszeit ist in Köln nicht zuletzt durch die Diskussion um Oper und Schauspielhaus ins Blickfeld einer breiten Öffentlichkeit gerückt. Wie viele andere Städte Nordrhein-Westfalens ist auch die Domstadt wesentlich von Architekturen geprägt, die nach 1945 errichtet wurden. An ihnen lassen sich städtebauliche Leitbilder ebenso wie architektonische Moden ablesen – vor allem aber stellen diese Bauten kulturelle Zeugnisse dar, die in ihrer Bedeutung angemessen gewürdigt werden müssen. Mit dem Buch „Auf den zweiten Blick“ liegt nun ein Sammelband vor, in dem eine historische Einordnung des Phänomens „Nachkriegsarchitektur“ in NRW geleistet und eine Beschreibung ausgewählter Beispielbauten vorgenommen wird.

Historie und Gegenwart

Das Buch gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Teil nähern sich sieben Essays in unterschiedlicher Weise dem gestellten Thema. So zeigt etwa der Architekturhistoriker Wolfgang Pehnt in seinem einleitenden Text die großen Linien des bundesdeutschen Bauschaffens der Nachkriegszeit auf, ohne dabei die spezifische, im Fokus des Buches stehende Situation in NRW aus dem Blick zu verlieren. Es folgen Essays zu zeitlich oder örtlich enger gefassten Fallstudien und – was für die wissenschaftliche Beurteilung von Architektur aus historischer Perspektive unerlässlich und dem öffentlichen Blick meist verborgen ist – zur Überlieferung von Archivalien.

Der Aktualitätsbezug stellt sich im abschließenden Essay ein, in dem die Mitherausgeber Sonja Hnilica und Markus Jager zehn Strategien des Umgangs mit dem baulichen Erbe der Nachkriegszeit an Beispielen erläutern. An dieser Stelle erweitert sich die historische Bestandsaufnahme explizit zum zukunftsgerichteten Blick, der um einen verantwortungsbewussten Umgang mit dem Vorhandenen bemüht ist. Dieser Blick kann den Planern wie auch den Nutzern den Zugang zur behandelten Epoche erleichtern, denn er entzieht die baulichen Zeugnisse dem bloß Musealen. Nur was genutzt wird, bleibt erhalten. In diesem Verständnis – das zeigt auch der Text – muss Erhaltung mehr beinhalten als die konservatorische Pflege eines historischen Zustands.

Gebaute Geschichte(n)

Den zweiten Teil des Buches bildet ein Katalog. Unter den 20 ausgewählten Beispielen sind Kirchen, öffentliche Einrichtungen, Gewerbebauten und einige Wohnbauprojekte, wobei die Zahl der Kirchen und öffentlichen Bauten überwiegt. Der örtliche Schwerpunkt der Auswahl liegt in Dortmund; hier sind insgesamt 7 Beispiele zu finden. Die übrigen verteilen sich auf Münster, Düsseldorf, Wuppertal, Velbert, Duisburg, Bochum, Witten, Neuss und Essen – und auch Köln ist mit einem Bau vertreten.

Die geografische Beschränkung erklärt sich daraus, dass dem Buch ein Lehr- und Forschungsprojekt vorausging, das an der TU Dortmund angesiedelt war. Auch wenn eine größere Streuung durchaus wünschenswert erscheinen könnte, ist doch den Herausgebern beizupflichten, dass „die Perspektiven und auch die Probleme (…) vielfach übertragbar“ sind. Das Interessante und durchaus Lehrreiche der hier getroffenen Auswahl liegt darin, dass vielfältige Bauaufgaben eine Behandlung finden. Die Autoren sind ihrem Credo treu geblieben, vor allem jenen Bauten einen „zweiten Blick“ zu widmen, die nicht gängiges Material architekturhistorischer Lehrbücher sind. Eben darin liegt eine Intention – und eine Stärke – des Werks: Das Alltägliche wird zum Besonderen, es führt das breite Spektrum einer nunmehr historischen Epoche vor Augen. Und dies lässt die Ortswahl in die zweite Reihe treten, denn das Buch fordert geradezu auf, auch weitere Gebäude der behandelten Epoche mit neuem Interesse zu betrachten.

Aus dem reichen Fundus Kölner Nachkriegsbauten wurde ein Beispiel in den Katalog aufgenommen, das der Devise des „zweiten Blicks“ voll entspricht: Es ist das kaum bekannte, in den Jahren 1961 bis 1962 von Peter Neufert errichtete Büro- und Servicegebäude der Firma Bosch in Neuehrenfeld. Hier zeigt sich, wie der unangemessene Umgang mit baulichen Strukturen der Nachkriegszeit zu einer Überformung geführt hat, die dem heutigen Betrachter die ursprünglichen Qualitäten selbst bei genauerem Hinsehen kaum ersichtlich werden lassen. Wie bei allen Katalogtexten würdigt die begleitende Baubeschreibung die in der Planung angelegten Eigenheiten und bezieht die späteren Veränderungen in die Betrachtung ein, so dass sich – trotz der Kürze der Einträge – ein guter Einblick in die spezifischen Geschichten der betrachteten Bauten ergibt. Den Katalogeinträgen ist stets ein aktuelles Foto vorangestellt, kommentierte Pläne, Fotos und andere Archivalien der Entstehungszeit runden das Bild ab.

Hinsehen!

Der Katalog kann durchaus als Anleitung (und Einladung) zum eigenständigen Sehen verstanden werden, denn alle Bauten sind dank der angegebenen Adressen leicht auffindbar. Es ist allerdings zu bedauern, dass sich im Anhang kein Literaturverzeichnis findet, das über den Einzelfall hinaus insbesondere dem interessierten Laien den Einstieg in die umfangreiche Spezialliteratur erleichtern würde.

Doch sei das Buch nachdrücklich jedem ans Herz gelegt, der sich mit dem baulichen Erbe der frühen Nachkriegszeit auseinandersetzen möchte. Es macht Mut, eine Epoche mit neuem Interesse zu betrachten, deren Bauten noch heute den Raum vieler Städte zwischen Weser, Rhein und Ruhr prägen. Schon der Titel dürfte die Autoren davor bewahrt haben, sich die Ikonen dieser Zeit herauszupicken oder sich auf nur eine bestimmte Bauaufgabe zu konzentrieren. So sieht sich der Leser meist „gewöhnlichen“ Bauten gegenüber, die dennoch stellvertretend für die großen Linien baulicher Strategien der Nachkriegszeit stehen. Und ein genaueres Hinsehen lohnt besonders bei diesen alltäglichen Bauten, die unprätentiös die wechselvolle Geschichte der jungen Bundesrepublik erzählen.

Rainer Schützeichel

Das Buch ist im transcript-Verlag erschienen: Sonja Hnilica, Markus Jager und Wolfgang Sonne (Hg.), Auf den zweiten Blick. Architektur der Nachkriegszeit in Nordrhein-Westfalen, 280 S., zahlreiche, z. T. farbige Abb., Hardcover, 29.80 Euro, Bielefeld 2010, ISBN 978-3-8376-1482-4.

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Sonja Hnilica, Markus Jager und Wolfgang Sonne (Hg.), Auf den zweiten Blick. Architektur der Nachkriegszeit in Nordrhein-Westfalen, Bielefeld 2010

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Peter Neufert, Bosch-Dienst Strenger, Köln-Neuehrenfeld, 1961-1962, Foto von 1962

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Peter Neufert, Bosch-Dienst Strenger, Köln-Neuehrenfeld, 1961-1962, Foto von 2009

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Emil Steffann, St. Bonifatius, Dortmund, 1952-1954, Foto von 1963

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Emil Steffann, St. Bonifatius, Dortmund, 1952-1954, Foto von 2009