Archiv des Kölner Architekturmagazins. 2000 - 2021.

Therapieverliebte Architektur

Baustile im Stadtbild, Folge 14: der spielerische dynamische Dekonstruktivismus.

Der dekonstruktive Architekt behandelt die reinen Formen der architektonischen Tradition wie ein Psychiater seine Patienten – er stellt die Symptome einer verdrängten Unreinheit fest. Diese Unreinheit wird durch eine Kombination von sanfter Schmeichelei und gewalttätiger Folter an die Oberfläche geholt: Die Form wird verhört.“ So heißt es im Katalog einer Architekturausstellung im New Yorker Museum of Modern Art, die im Jahre 1988 stattfand.

Mit dieser Schau – „Deconstructivist Architecture“ – wurde der Stilbegriff Dekonstruktivismus eingeführt und bekannt gemacht. Um sich anzuschauen, was damit gemeint ist, brauch man nur beim Shoppen den Tunnelblick von den Winterkollektionen loszureißen und dem Dachstuhl des 4cani in der Ehrenstraße zuzuwenden. Auf einem ganz gewöhnlichen 50er-Jahre-Gebäude in der üblichen Blockrandbebauung scheint eine ganze Baustelle vergessen worden zu sein: Stahlträger, Glasflächen und Mauerstücke ragen wirr durcheinander. Schiefe Ebenen und weit auskragender „Stahlsalat“ lassen das Ganze sehr prekär wirken, wie kurz vor dem Absturz.

Ein vorgefertigtes Stahltragwerk bildet das Skelett für sich anklammernde Flächen und Balken. In dem zweigeschossigen, 1100 Quadratmeter großen Dachaufbau ist das Büro des Architekten Harmut Gruhl untergebracht. Innen wirken die Räume mit ihren ungewohnten Zuschnitten unvermutet behaglich, ganz im Gegensatz zur aggressiven Kantigkeit des Außenbaus. Die Therapieverliebtheit der späten 80er- Jahre machte auch vor der Architektur nicht Halt: verkrustete Strukturen galt es aufzubrechen, egal wo man sie vorfand. Es herrschte die Vorstellung von einerunvorbelasteten Architektur, die nur ihren eigenen Gesetzten folgte: Regelmäßigkeit, Reihung und Symmetrie wurden nicht mehr als Vorgaben angesehen, sondern als belastend und einschränkend. Der Betrachter sollte sich von eingefahrenen Sehschemata lösen.

Die Grundidee war, alles einzureißen, um neue Möglichkeiten zu erkunden. Gebäude fingen scheinbar an zu tanzen, wie La Perle de Prague, ein Bürogebäude von Frank O. Gehry und dem tschechischen Architekten Vlado Milunic am Ufer der Moldau. Gehrys Guggenheim Foundation in Bilbao sieht aus wie ein Bukett aus Titan-Blüten. Und das Jüdische Museum in Berlin von Daniel Libeskind bildet Bedeutungsformen ab: Der Grundriss folgt einem geborstenen Davidstern, schiefe Böden, eine mit Rissen durchsetzte Außenhaut und Durchgänge, die von Balken verschüttet zu werden drohen, inszenieren den Inhalt des Gebäudes.

Dekonstruktivistische Architektur hat einen freieren, spielerischeren und dynamischeren Umgang mit architektonischen Elementen und Gliederungsstrukturen erreicht und neuartige, feinnervige Licht- und Schattenspiele ermöglicht. In Köln zu sehen an den Dachaufbauten des Hotels Chelsea in der Jülicher Straße und des Hauses Gruhl in der Brüsseler Straße 38, beide vom Büro Hartmut Gruhl. Auch die WDR-Arkaden von Gottfried Böhm lassen sich diesem Stil zuordnen.

Ira Scheibe

Dekonstruktivismus

Der Begriff Dekonstruktivismus bezeichnet eine Architektur, die den Regeln der Konstruktion zu widersprechen scheint. Das Gebäude wird gleichsam zerlegt und wie eine Skulptur neu zusammen gesetzt. Stahltragwerke und Betonkerne dienen als Gerüste für Aufbauten, die sich scheinbar von den Gesetzen der Statik und Schwerkraft befreien. Dekonstruktivistische Bauwerke lassen sich an segelnden oder stürzenden Flächen, sich durchdringenden Formen, an der Abkehr vom rechten Winkel und dem Vorherrschen von Glas, Metall und Beton erkennen. Sehgewohnheiten sollen hinterfragt, die inneren Gesetze der Konstruktion veranschaulicht werden.

Erschienen in der Sonderbeilage „Wohnen & Leben“ der Kölner Zeitungsgruppe (Kölner Stadt-Anzeiger, Kölnische Rundschau) am Wochenende des 5./6. September 2009

Alle bisher in der Serie „Baustile im Stadtbild“ erschienen Beiträge:

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Das 4cani in der Ehrenstraße, errichtet 1994 von Hartmut Gruhl. Foto: Stefanie Biel