Archiv des Kölner Architekturmagazins. 2000 - 2021.

Heimaturlaub: Burg Wissem

Drei Projekte und eine Gesamtperspektive

Troisdorf weckt keine großen Heimatgefühle, aber es besitzt ein Wahrzeichen, das, seitdem es im Rahmen der Regionale 2010 umgebaut und mit neuen Nutzungen belebt wurde, deutlich an Attraktivität gewonnen hat. Burg Wissem, eine ehemals von Wassergräben umschlossene Burg- und Wehranlage, liegt am nördlichen Troisdorfer Stadtrand im Hirschpark, der einen direkten Übergang in die Wahner Heide bietet. Seit 1982 befindet sich im Herrenhaus der Burg Europas einziges Bilderbuchmuseum, das regelmäßig schöne Ausstellungen zu Kinderbuchillustrationen zeigt, viele Veranstaltungen zum Lesen und Büchergestalten anbietet und ein gemütliches Lesezimmer im Turm besitzt.

Stadt und Land

Die Stadt Troisdorf lobte 2008, gemeinsam mit der Regionale 2010-Agentur, ein kooperatives Wettbewerbsverfahren mit fünf Teilnehmern zur Entwicklung der Gesamtperspektive Burg Wissem aus. Die wenig charmanten Bestandsgebäude aus den 1960er Jahren sollten so umgebaut und erweitert werden, dass sie das Museum für Stadt- und Industriegeschichte (MUSIT), drei Klassenzimmer als außerschulische Lernorte des Projektes KennenLernenUmwelt (KLU) und ein Portal in die Wahner Heide aufnehmen können. Davon, dass die Regionaleprojekte immer pädagogisch angestrengt und sprachlich sperrig klingen, darf man sich nicht abschrecken lassen, denn das Kölner Büro m. schneider a. hillebrandt architektur, das den Wettbewerb gewonnen hat, fand für alle geforderten Nutzungen (und zu den grade genannten kamen noch ein Trauzimmer, eine Touristeninformation, Räume für Stiftungen und Vereine und ein Restaurant) einen Platz in der historischen Rechteckanlage der Burg.

Trotz der für die verschiedenen Funktionen individuell gestaltete Räume und unterschiedlichen Bezüge zum Umfeld, entstand ein gestalterischen Kontinuum, das die Burg als Kultur-Campus zusammen führt. Wie eine Spange schließt der von Annette Hillebrandt und Martin Schneider um zwei Gebäudeköpfe erweiterte Bestand den Burghof an der Nordwestseite ab. Auf der Stadtseite umschließt das auf den ehemaligen Gebäudefluchten des historischen Südflügels errichtete neue Torhaus das historische Burgtor. Hier befindet sich weiterhin der Haupteingang in den Burghof, aber auch das neue Standesamt, dessen Trauzimmer mit einem großen Erker in der Giebelwand markiert ist. Von hier aus, wie auch von der Stadtseite ist der Blick auf das klassizistische Herrenhaus offen.

Stadt und Industriegeschichte

Mit einem zusätzlichen Geschoss, einer neuen Dachform und einer freien aber immer noch geordneten Fassadengliederung wurde aus dem uninspirierten Platzhalter der 60er Jahre, nach dem Umbau ein in seiner Gesamtwirkung harmonisches, aber keineswegs allzu gefälliges Gebäude. Die räumlichen Qualitäten setzen sich im Inneren fort, insbesondere in der Gestaltung der 600 qm großen Ausstellung des MUSIT im Dach- und Obergeschoss. Auch wenn die Geschichte und Entwicklung der Stadt Troisdorf nicht nach einem Riesenerlebnis klingen, mit der Ausstellungsarchitektur von Martin Schneider und Annette Hillbrandt gelingt die Inszenierung der durchaus kuriosen Objekte zu einem überraschenden Exkurs in die Heimatgeschichte. Im Rahmen des Regionale-Projektes KLU wurde das Bilderbuchmuseum zur :regionalen Kunst- und Literaturwerkstatt erweitert, zwei der drei hierfür benötigten Klassenräume liegen in den großzügigen Dachgeschossen der Giebelköpfe.

Das Restaurant, das sich bisher in der Remise befand, hat hier im Westflügel deutlich schönere Räume und im Burghof eine großzügige und geschützt gelegene Terrasse gefunden.

Stadt und Natur

Über den Hof hinaus weist das Burgtor den Weg durch die, auf der selben Achse liegende Fuge zwischen Remise und dem östlichen Erweiterungsbau in das Naturschutzgebiet Wahner Heide. Auf eine weitere Inszenierung dieser schlüssigen Wegeführung konnten die Architekten verzichten. Im Rahmen der Regionale 2010 sollte der „grüne Schatz im Ballungsraum“ erschlossen und populär gemacht werden. Dazu wurde in jeder Himmelsrichtung ein Portal – als Eingang und Informationszentrum in den Naturschutzpark geplant. In jedem der vier Portale werden unterschiedliche Aspekte der Wahner Heide dargestellt, am Portal Burg Wissem gibt es – inspiriert vom Bilderbuchmuseum – eine interaktive Ausstellung unter dem Titel Natur erzählt Geschichte(n).

Als Gesamtperspektive Burg Wissem wurde ein Ort geplant, der viel leisten muss, in ganz unterschiedliche Netzwerke eingebunden ist und sehr verschiedene Zielgruppen bedienen soll.

Mit sensibel angepassten Kubaturen, schlüssigen Weg- und Blickachsen, präzise gesetzten Akzenten und wenigen aber sorgsam ausgewählten Materialien ist es Martin Schneider und Annette Hillebrandt gelungen, den programmatischen Kulturstress in Schach zu halten.

Uta Winterhager

 

Fahrzeit mit dem Auto von der Kölner Innenstadt etwa 25 Minuten.

Burg Wissem
Burgallee 1
53840 Troisdorf

Dienstag bis Freitag jeweils von 11:00 bis 17:00 Uhr,
Samstag, Sonntag, Feiertag 10:00 bis 18:00 Uhr
Montag geschlossen

 

Weiterführende Links:

>>Bilderbuchmuseum

>>Portal Burg Wissem

>>MUSIT

>>ms ah m. schneider a. hillebrandt architektur

 

weitere Texte im Rahmen der Serie:

Raus aus der Stadt!

>>Heimaturlaub: Drachenfels
20.04.2011
Abbruchstimmung und Aufbruchstimmung auf dem Drachenfels

>>Staunen und schweben
30.08.2012
Müngstener Brücke und Brückenpark Müngsten

 

Heimaturlaub – Raus aus der Stadt!
In loser Folge werden bei koelnarchitektur interessante Ausflugsziele in der Region vorgestellt. Nicht einfach irgendwelche Ausflugsziele, sondern solche, die mit einem Architektur-Highlight locken, landschaftlich schön gelegen und von Köln aus in maximal einer Auto- oder Bahnstunde zu erreichen sind. Eine Reihe kleiner Urlaubsschnipsel: erlebnisreiche Tage, nach denen man inspiriert und gut gelüftet gerne wieder in die Stadt zurück kommt.

 

„Radikal angepasst“ Ausgangspunkte des Entwurfes waren ein behutsamer Umgang mit dem baulichen Bestand und die einfühlsame Stärkung der Ensemblewirkung. Der Westflügels wurde ein Geschoß aufgestockt, wobei die neue Dachform die bestehenden und historischen Dachlandschaften interpretiert.

Foto: D. Schäfer

Farben und Kontraste des Fassadenmaterials sind in Anlehnung an die Remise gewählt. Im Sommer nutzt die Gastronomie die großzügige Terrasse vor dem Westflügel.

Foto: D. Schäfer

Die Dependance des Troisdorfer Standesamtes hat eine eigene Adresse im Torhaus erhalten.

Foto: Cornelis Gollhardt

Das historische Burgtor ist mit dem neuen Torhaus wieder Teil des Burg-Ensembles geworden. In der Achse über den Burghof liegt das Portal zur Wahner Heide als Fuge zwischen Remise und Ostflügel.

Foto: Cornelis Gollhardt

Das in Troisdorf gefertigte Haremstor (rechts im Bild) wurde 1889 auf der Weltausstellung in Paris gezeigt. Der Scheich, der es bestellt hatte, wollte jedoch nicht dafür bezahlen, also bekam er es nicht. Jetzt hat es einen Ehrenplatz im Eingangsbereich des Museums für Stadt- und Industriegeschichte. Foto: D. Schäfer

Die Fassadengestaltung des Westflügels entstand aus der Überlagerung der Lochfassaden von Herrenhaus und Remise, die eine Kombination aus orthogonalem Raster und freier Anordnung ergab.

Foto: ms ah

Durch korrespondierende Lufträume wird die in der Gesamtanlage praktizierte Idee des ‚offenen Hauses‘ nach Innen transportiert.

Foto: D. Schäfer