Archiv des Kölner Architekturmagazins. 2000 - 2021.

Unort als Bühne

Wie verzweifelt ist das Kölner Schauspiel nur wegen seiner Spielstätten? Nun findet Theater schon an der Straßenecke statt! Sorgfältig recherchiert und liebevoll inszeniert wird in…

Erst fallen nur wenige Tropfen, dann wird der Regen wieder stärker. Pünktlich zum Beginn des Stücks natürlich. Die Gruppe der in Wetterjacken und Mützen gehüllten Theaterbesucher drängt sich unter zwei Sonnenschirmen, durch die es auch noch durchregnet. Ein Open-Air-Theaterstück ausgerechnet im Oktober – wer hat sich das nur ausgedacht? Und dann auf diesem unwirtlichen Platz ohne Namen gegenüber von St. Gertrud, 1962 bis 1965 von Gottfried Böhm gebaut und mit dem Deutschen Architekturpreis ausgezeichnet.

Brücke zum Interim

Eigentlich sollte die Premiere der „Goldveedelsaga“ schon in der vergangenen Spielzeit stattfinden. Als geografische Brücke zwischen dem Schauspielhaus und der Interimsspielstätte EXPO XXI am Gladbacher Wall, zu der man nur über die Krefelder Straße gelangt. Bekanntlich wurde aber der Abriss des Schauspielhauses verhindert und der Auszug verzögert, auch diese Spielzeit findet noch im Schauspielhaus statt. Doch nun wollte sich die Regisseurin des Stücks, Gesine Danckwart, wohl nicht mehr gedulden und bringt ihre Nachbarschafts-Recherche zur Uraufführung.

Zirkus-Roadshow

Ein improvisiertes Zirkus-Spektakel an einem auf der Platzmitte geparkten Laster leitet die inszenierte Vergabe der Kopfhörer an die Zuschauer ein. Während sich die Gruppe, nun ausgestattet mit Kopfhörern, Empfangsgerät und eigens zur Verfügung gestellter Regenjacke, noch sammelt, beginnt schon die Betrachtung der Umgebung aus 1950er-Jahre-Bauten und vereinzelten Gründerzeithäusern und ihrer Bewohner. Realität und Fiktion vermischen sich kaum noch trennbar: Lebt im ersten Stock wirklich Christian, der Afrika-Fan? Schaut die Frau in der dritten Etage nur zufällig aus dem Fenster? Der Sixt-Transporter, mit der angeblichen Ladung Teddybären ist wohl nicht von ungefähr vorbeigekommen. Oder doch? Die Jogger aber gehören auf jeden Fall dazu! Doch nicht nur diese Ebenen vermengen sich, auch die eigene Inszenierung wird von den Darstellern kommentiert, während sie die Geschichten über die Bewohner erzählen und Originaltöne einspielen.

Führung durch St. Gertrud

In einer ausgefeilten Choreografie werden die Zuschauer, nachdem sie in Gruppen aufgeteilt einzelnen Schauspielern zugewiesen wurden, an die verschiedenen Stationen des Spiels geführt. So wird auch St. Gertrud besucht. Durch die Sakristei – mit Blick auf die Hostien-Plastiktüte im schlichten Schrank – geht es in den Kirchenraum. Aufgeteilt nach Konfessionen sollen die Zuschauer ihre Eindrücke schildern. „Bedrückend“ ist aus der Atheisten-Reihe zu hören, genauso wie „düster“. Fast wie bei einer Architekturführung werden Geschichte und Entwurf der Kirche erläutert. Während in St. Gertrud Claas (Maik Solbach) in die Rollen der Pfarrsekretärin oder des Küsters schlüpft, spielt in den Kneipen das Personal gleich mit: Kellnerin Vio ist das große Vorbild von Mira (Marie Rosa Tietjen) – und wird von ihr für ihren tollen Jeans-Po gelobt.

Hemmungsloses Fensterstarren

So wird eine Gruppe harmloser Theaterbesucher zu hemmungslosen Fensterstarrern. Über die Kopfhörer bekommen sie eingeflüstert, was sonst verborgen bleibt: Die inneren Kämpfe der einsamen Gala (Birgit Walter), die überlegt, ob sie ausgehen soll, oder nicht. Die Selbstgespräche des Studenten Pit (Holger Bülow), der so recht nichts anzufangen weiß mit seinem Leben. Die „Goldveedelsaga“ lädt ein zur Reflektion über die eigene Rolle in der Nachbarschaft, über die Anonymität der Großstadt, in der man dicht aufeinander wohnt und doch nicht miteinander lebt. Eingespielte Interviews behandeln ganz nebenbei Themen wie Stadtwandel oder Gentrifizierung, wenn davon erzählt wird, dass hier früher überall Kneipen waren oder dass der Platz in zehn Jahren womöglich noch genauso aussehen wird.

Mittelpunkt des Weltalls

Aber es bereitet auch einfach nur großes Vergnügen, dem in einen glänzenden, wasserabweisenden Anzug gehüllten René (Torsten Peter Schnick) dabei zuzusehen, wie er in Mülltonen rumwühlend Details über die Nachbarschaft verrät. Er ist auch derjenige, der am souveränsten mit der für Schauspieler ungewohnten Situation umgeht und mit den Zuschauern interagiert, die ihm so nahe kommen. Doch mit zunehmender Spieldauer werden sicher auch die übrigen Darsteller pointierter. Wenn dann noch die manchmal auftretenden akustischen Probleme bei der Funkübertragung auf die Kopfhörer ausgemerzt werden, wird der Platz zwar wahrscheinlich noch nicht zum „Mittelpunkt des Weltalls“, wie es in dem Stück heißt, aber der Zuschauer vergisst Kälte und Regen und hat bei diesem ideenreichen und kurzweiligen Theaterspektakel einen Riesenspaß.

Disclaimer: Die Autorin dieser Zeilen wurde während der Aufführung – wie alle anderen Zuschauer auch – mit mehreren Gläsern Schnaps bestochen.

Vera Lisakowski

Die „Goldveedelsaga“ wird noch bis zum 17. November 2011 auf dem Platz gegenüber der Kirche St. Gertrud an der Krefelder Straße aufgeführt.

Informationen des Schauspiels Köln

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Birgit Walter als Gala vor der Kirche St. Gertrud von Gottfried Böhm.

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René (Torsten Peter Schnick), Gala (Birgit Walter), Claas (Maik Solbach), Pit (Holger Bülow), Roger (Robert Dölle) und Mira (Rosa Marie Tietjen) am Zirkuslaster.

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Claas (Maik Solbach) führt durch St. Gertrud und erklärt den Entwurf Gottfried Böhms.

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Student Pit (Holger Bülow) vor dem Schnellimbiss über dem er wohnt.

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René (Torsten Peter Schnick) in seiner Stammkneipe.